Der Bauer erblickte genau die Sehnenstränge des langen, dünnen Halses, und in der tiefen Rinne zwischen ihnen floß der Haarschopf in einem mageren Schwänzchen bis unter den Rockkragen: vielleicht über den ganzen Rücken hinunter, sann der Bauer, und der Kerl ist überhaupt kein Mensch. So fiel den Sintlinger nach all den Aufregungen der letzten Wochen etwas wie ein Grauen an, als wühle der tölpische Alb da drunten an den Grundfesten des Hügels, auf dem sein Hof stand, und ließ er ihn gewähren, so brach eines Tages unversehens alles über seinem Kopfe zusammen und begrub ihn unter den Trümmern. Jäh, ein schreckensheißer Traum, zuckte das in ihm auf. Er mußte die Mütze abnehmen, denn im Augenblick wußte er nicht, was zu machen sei. Endlich überkam ihn die Wut. Er richtete sich auf und schleuderte einen solch gellen Ruf nach ihm, daß der Halbsinnige, wie von einem Geißelhieb getroffen, aufflog und in langen, fahrigen Sätzen nach Hemsterhus davonlief.
In derselben Nacht sprang der Sintlinger plötzlich aus dem Bett, riß ein Pferd aus dem Stalle und galoppierte hinaus in die Finsternis. Wie damals, als das Kind geboren wurde, hörte Johanna die Hufe des Pferdes über den Hügel hinunterwirbeln und, schwächer und schwächer, sich in der Ferne verlieren.
Als sie im grauen Morgen erwachte, lag ihr Mann totenblaß in den Kissen. Sein Gesicht war eingefallen, sah zerpflügt aus, trug aber die Züge gesammelten, wenn auch schmerzvollen Ernstes, und sein Atem ging ruhig. Er lag wie ein übermüdeter Kämpfer, und manchmal zuckte es über seine Stirn, als müsse er das Brennen geheimer Wunden verbeißen.
Ein Weib weiß nichts von den grauen Tieren der Luft, mit denen ein Mann ringen muß, wenn er auf dem Wege bleiben will, auf den ihn ein hohes Erwarten gestellt hat. Wonach er in Unrast immer langen muß, das trägt sie als unerworbene Sicherheit in der Seele. Deshalb glaubte auch Johanna, ihr Mann sei von dem Erscheinen und seltsamen Gebaren des Glöckchenhorchers, gerade wie sie, nicht anders als ein Kind erschreckt und von allerhand ahnungsvoller Sorge in die Nacht getrieben worden. Aber sie traf mit diesen Gedanken nur sehr äußerlich die Not, die über Andreas gekommen war, und erschrak tiefer als je vorher in ihrem Leben, als er erwachte. Er fuhr jäh auf, sah sich wie fremd in seinem Zimmer um und schaute dann sein Weib lange und düster an. Darauf hub er an zu reden. Ohne Einleitung, mitten aus den Wirbeln sprach er von dem Unsinn des Lebens, wenn man denken müsse, daß Menschen nichts als Fangbälle seien, die der Zufall bald so, bald so schlage; daß sich alle Mühe nicht lohne, weder im Guten noch im Bösen, daß es besser sei, gleich dem Hemsterhuser Narren umherzutölpeln, gäbe es etwas wie eine solch bestialische Macht, die es fertig bringt, Eltern dadurch zu strafen, daß sie ein unschuldiges Kind ins Unglück stoße. Das ertrage er nicht einen Tag länger. Hier müsse alles ins reine gebracht werden. Morgen in der Frühe werde nach Münster zu einem großen Doktor gefahren. Der müsse sagen, ob es sich bei seinem Kinde nur um einen gemeinen Faustschlag ins Gesicht handle. Was dann zu geschehen habe, das wisse er und sei entschlossen, nicht einen Augenblick mit dem zu zögern, was sich einzig darauf gehöre. Sie solle alles vorbereiten!. Dann berührte er mit seinen Lippen leicht die bleiche Stirn seines Weibes und sprang von seinem Lager auf.
Alle diese Vorgänge liefen nicht etwa mit dem alten Sintlingerschen Toben durch den Hof; sie ereigneten sich unter gemessenen und ruhigen Formen, daß nicht einmal das Gesinde etwas von dem Sturme merkte, der den Bauern erfaßt hatte.
Wie jeden Morgen trat er auch an diesem Tage um die gleiche Zeit auf den Hof, rückte die Mütze nach hinten und ließ seine aufmerksamen Augen rundum wandern. Er tat es mit absichtlicher Gemächlichkeit. Wenn ihm auch das leise Pfeifen nicht gelingen wollte, das sich sonst von selbst zwischen die Lippen geschoben hatte, machte er doch immerhin den Eindruck eines Mannes, der gewohnt ist, sich vor dem tätigen Zugreifen mit einem Blick auf seinen geordneten Wohlstand anzuregen. Dann rief er den alten Knecht zu sich, der eben, mit einer hölzernen Futterschwinge in den Armen, gebückt aus dem niedrigen Aftertürchen der Scheune heraustrat. Der ungefüge Dienstmann nickte nur auf den Anruf zum Zeichen des Verständnisses seinem Herrn zu und trug dann in unbeschleunigt langen Schritten seinen Hafer in den Pferdestall. Andreas bewegte sich indessen langsam dem Hoftor zu. Dort fand sich der Knecht zu ihm, und ohne ein Wort schlugen beide den Weg ins Feld ein. Der Sintlinger ging mit zu Boden gekehrtem Gesicht, die Hände auf dem Rücken. In mäßigen Wogen zog das Land vom Hofhügel dem Walde zu, der im Schmuck des jungen Eichenlaubes als rötlichgrüne Wolke bald aus der Erde herauswuchs, bald in sie zurücksank, je nachdem die beiden schweigsamen Männer über eine Erhöhung oder durch eine Senke schritten. Auf der höchsten Bodenwelle, der Hohen Kippe, dem Ort, von wo aus man fast das ganze Sintlingersche Gut übersehen konnte, machte Andreas halt und begann dem Knecht Anweisungen über die Arbeiten zu geben, die in der nächsten Zeit notwendig waren. Er sprach ruhig, sogar mit einer Art kalter Beiläufigkeit. Selbst als er, nur wie von ungefähr, sich in Erwägungen über den Verlauf der Ernte, ja sogar den Verkauf des erwarteten Getreides verlor, geschah das so ungezwungen, so ganz in spielerischer Vollendung der tatsächlichen Aufträge, daß der ergraute Dienstbote nichts Verwunderliches darin fand, warum sein Herr über diese ferne Zeit sich schon jetzt Sorgen mache.
»Du mußt wissen«, sagte der Sintlinger am Ende, »ich verreise morgen nach dem Münsterischen hinüber. Es kann eine Woche dauern, auch länger. Frau und Kind gehen mit, und kehre ich nicht am selben Tage mit ihnen wieder zurück, so hat das weiter nichts zu bedeuten. Verstanden? Indessen führst du alles, als ob ich hinter dir stände. Dem übrigen Gesinde, besonders den Weibsbildern, brauchst du davon nichts unter die Nase zu binden. Die machen aus einem Balg eine Katze und aus einer Katze eine Kuh.«
Plötzlich schwieg er. Das letzte Wort wurde ihm förmlich aus dem Munde gerissen. Er reichte dem Knecht die Hand hin, in die dieser einschlug, und kehrte sich hastig um, der langen Wiese zu, die im Schmuck ihrer Maiblumen wie ein breiter goldener Strom von dem Walde her durch die geneigte Mulde sich dem Grenzwege zuwalzte. Dann schluckte er den Gesamtanblick seines wohlbestellten, fruchtreichen Gutes hastig und leidenschaftlich in seine braunen Augen, die sich davon zum Bersten mit tieferer Finsternis füllten, und schritt fast laufend dem Hofe zu, daß der Knecht kaum zu folgen vermochte. Dort begann er sofort einen Rundgang durch alle Gebäude. Das Mittagessen schlang er hastig hinunter. Er warf die Bissen, ohne zu kauen, in den Schlund, sah an Weib und Kind achtlos vorbei und stöberte dann wieder bis in den Abend hinein ruhelos treppauf und treppab, durch Böden, Ställe, Schuppen und Scheunen. Vor dem Schlafengehen war er verschwunden; nach langem Suchen fand ihn Johanna in dem kleinen Garten, der nach dem Rheine zu lag. Es war schon Nacht, aber nur halbe Finsternis; denn der Sichelmond schielte eben bleich über die Hügel herein. Als die Bäuerin geräuschlos das Gartentörchen geöffnet und ein paar auf den Zehen schwebende Schritte den Weg zur Laube hin getan hatte, die an der Giebelwand des Stallgebäudes stand, mußte sie vor Bestürzung stehenbleiben. Sie hörte da etwas, was sie nie für möglich gehalten hätte. Die Stimme ihres Mannes tönte in der Laube ganz leise, ganz versunken, so wie Menschen aus einem fernen Traum, aus verjährtem Sonnenschein singen. Freilich sprach er die Worte mehr gedehnt und gedankenvoll wägend:
»Hätt' ich nun drei Wünsche,
Drei Wünsche alsoviel.
Die sollt' ich gehen wünschen:
Drei Rosen auf einem Stiel.«
Es war die erste von den zwei Strophen eines Liedes, das in jener Gegend sehr junge Leute singen, wenn sie im ersten Verwundern des Lebens und der Liebe stehen.
Johanna wurde davon so im Halse gewürgt, daß sie einen unbedacht lauten Schritt tat.
Da trat ihr Mann auch schon über die Schwelle der Laube zu ihr heraus und sagte: »Gut, ich komme schon.« Ergriff ihre Hand und führte sie ins Haus.
*
Am andern Morgen, lang vor Tag, wurde aufgebrochen. Der Sintlinger nahm auf dem erhöhten Kutschersitz des Jagdwagens Platz, der alte Knecht und Johanna setzten das Kind zwischen sich. Es wimmerte leise und schlaftrunken. Als das Gefährt vorsichtig den Hügel hinuntersank und dann in reißendem Rollen dem schlanken Trabe der Gäule nachlief, verstummte Helene. Ihr Gesichtchen nahm den Ausdruck furchtsam gespannter Erwartung an, und sie zog Arme und Beine an den Körper. Der Sintlinger saß ohne sich zu rühren, ließ die Peitsche pfeifend