»Reden Sie weiter, Herr Stiftsprediger.«
»Diese Gräfin soll eine Hexe gewesen sein, und so stark ruhte der Verdacht auf ihr, daß sie trotz ihres hohen Standes hier Monate lang im roten Turm in Untersuchungshaft war. Was das bedeutet, wissen Sie vielleicht. Die Akten sind vernichtet worden, wie natürlich; es existieren nur Aufzeichnungen daraus von der Hand meines damaligen Kollegen, eben des Leichenredners. Die schändlichsten Dinge wurden ihr vorgeworfen, der rote Turm wird manchen unruhigen Schritt von ihr gehört haben. Dann wieder manches, was uns nur lieblich und sogar poetisch anmutet. Sie tanzt allein im Mondschein unter der Linde und singt dazu in zwei Stimmen. Ihre Schönheit wird ihr vorgeworfen, der Zauber, den sie an sich hat, und der so groß gewesen sei, daß sie nicht nur die Menschen, sondern auch die unvernünftige Kreatur bezwungen habe. Zu einem Prozeß scheint es aber nicht gekommen zu sein. Eines der vielen Rätsel, die diese Geschichte aufgibt.«
»Sie sah aus wie meine Frau, nur noch schöner sei sie gewesen, alle Farben stärker, dunkler das Haar, die Augen auch wohl nicht ganz so groß. Nun, sie hat sich aus diesem Turme wieder herausgezaubert, dies wundert mich gar nicht. Wer brächte es fertig, außer vielleicht in schlimmen Worten, meiner Frau so etwas anzutun. Gäbe es einen Kerkermeister, der ihr nicht bei Nacht über den Zaun hülfe, wenn sie ihn so recht herzbeweglich ansähe!«
»Mich wundert es aber, Herr Graf, mich wundert es sehr; wenn dieser Unglückskarren einmal angestoßen war, rollte er erbarmungslos über Schönheit und Jugend und Lieblichkeit hinweg.«
»Und der Herr Kollege, der die schöne Leichenrede hielt, wofür hat der sie gehalten?«
»Für eine Heilige. Er nennt sie so. So ganz leicht ist sie nicht aus dem Turm gekommen, der Kollege hat sehr sorgfältig durch eine lange Amtszeit jede Kommunion, auch Privatkommunion vermerkt. Er gab sie ihr in ihrer schweren Krankheit in Schloß Schweigen, dabei nennt er sie: unsere liebe Heilige. Nun, sie kann wohl krank geworden sein infolge des langen Schreckens. Es ist ja nicht anders möglich. Denn wenn sie wirklich in ihrem roten Turm einige Stockwerke tiefer hinuntergekommen wäre, so wäre sie dadurch unehrlich geworden. Eine Ehe nachher mit dem Grafen wäre ganz ausgeschlossen gewesen. Und doch...«
Harro rief: »Meine Frau sagt, sie habe tiefe, breite Narben an ihren Armen. Hier das Zeichen.... Meine Frau, ihr Vater, sie haben beide an dem Handgelenk rote Streifen. Ein Muttermal. Bei meiner Frau ist es so stark, es ist besonders stark jetzt, weil sie leicht die Farbe wechselt.«
Der Stiftsprediger sagte: »Es wundert mich nicht, obgleich das Rätsel bestehen bleibt. Denn man erfährt von jener Kommunion an nichts mehr von der Heiligen und von der Hexe bis zu ihrem Einzug in Brauneck als Grafenbraut unter Glockengeläute und unter allgemeinem Jubel. Der Jubel ist so groß, daß es heißt, die Stadt konnte die Menge nicht fassen, die herbeigeströmt war, und wer nur ein Läublein erhaschen konnte, mit dem der Weg bestreut war, der schätzte sich glücklich. Dies habe ich aus einem Memorandum, das der Herr Rat besitzt. Von einem damaligen gräflichen Schreiben. Die Braut wird beschrieben in einem grünen Reitkleid von venetianischem Samt, mit aufgelöstem Goldhaar, das ihr bis zu den Knien gereicht habe, und einem Rosenkranz, reitend auf einem Schimmel mit goldbordierter Schabrake. Der Anzug des Bräutigams, der einen roten Rosenkranz trug, beansprucht eine Seite in dem Memorandum, so viel schöne Dinge hatte er an sich. Sagen wir, er habe sie gerade im letzten Augenblick aus ihrem Turme heraufgeholt, so irren wir gewiß nicht.«
»Ich warte schon lange auf den Glücksmenschen.«
»Nehmen wir es an, Herr Graf. Aber das Rätsel wird nicht geringer dadurch. Der Abgrund von dem einen zum andern Bild, dem Karren mit der gefesselten Hexe darauf, auf den die Braunecker jedenfalls gewartet haben, bis zu dem Schimmel mit der goldenen Schabrake macht es noch lange nicht deutlich genug, welch ein Abgrund zwischen den beiden Möglichkeiten klafft. Ich glaube nicht, daß Sie mir ganz folgen können, Herr Graf, außer wenn Ihnen die Geschichte jener Zeit auch in ihren Details geläufig wäre.«
»Sie haben ganz recht, nicht allzuviel Kenntnisse bei mir zu vermuten; ich hielt es sogar für recht einfach.«
»Herr Graf, der Schwiegervater, der die Tochter zuerst drei Monate einsperrt, dem Gerede der Leute aussetzt, einen Prozeß zuläßt und dann die Hexe ohne jeden ersichtlichen Grund als Tochter mit Ehren empfängt? Reinigen konnte man sich nicht einmal, wenn man die Folter ganz überstanden hatte, und wäre das über sie gekommen, so säße sie auf keinem Schimmel mehr.«
»Hören Sie auf mit diesen fürchterlichen Dingen, Herr Stiftsprediger. Meine Frau darf das nie erfahren, niemals.«
»Wie hat sie sich nun aus dem Geschlinge herausgearbeitet? Davon erfahren wir nichts. Wie hat sie es gemacht, daß dieselben Leute, die sie vorher zu steinigen versuchten, nachher sich um die Läublein rissen, über die die Hufe ihres Schimmels geschritten waren! Sie können sich die Macht der alten Herren hier als noch so groß vorstellen, – sie war es auch gerade in jener Zeit zum Bösen und zum Guten; der alte Graf war ein gewaltiger Herr – aber diesen Jubel befehlen, überhaupt diesen Glanz, der auf jenem Feste liegt und noch deutlich in dem Memorandum zu fühlen ist, das ließ sich nicht befehlen. Unmöglich, ganz unmöglich. Aber wir erfahren nicht das mindeste darüber, das Venetianerkleid wissen wir, das andere nicht, der Prozeß wird niedergeschlagen, oder vielmehr er steht plötzlich still wie ein abgelaufenes Uhrwerk, verschiedene Eingaben um Gutachten an die Universitäten, die mein Kollege ausgearbeitet, werden nicht abgesandt, und jedermann, der das Fest mitmachte, scheint es gewußt zu haben, was geschehen ist. Denn in der Leichenrede wagt mein Vorgänger sogar auf die Sache anzuspielen. Er spricht von dem harten Joch, das sie, wie männiglich bekannt, in ihrer Jugend getragen. Dies ist das größte Rätsel. Es gibt aber noch eines. Man hört nun nichts mehr von ihr, als daß sie zum Abendmahl geht. Ich denke, sie wird das Leben einer vornehmen Dame jener Zeit geführt haben. Die Rede rühmt sie als barmherzig und wohltätig und an anderer Stelle noch einmal, daß sie an vielen Sterbebetten stand. Die Braunecker konnten wohl gar nicht mehr ohne sie sterben. Ich kann mir das so gut denken. Nie oft habe ich gedacht, wenn ich einen schweren Gang ging: wenn ich jetzt diese Gräfin Gisela mitnehmen könnte wie mein Vorgänger! Was mag er an ihr gehabt haben. Und nun kommt das zweite Rätsel. Ganz ohne jede Erklärung findet sich in dem dreimal versiegelten und verschnürten Päckchen, das ihren Namen trägt und das erst ich in meiner Leidenschaft nach alten documents humains geöffnet habe – und mir dafür zur Strafe das Herz verbrannt, – es findet sich da ein Brief der Gräfin Gisela an meinen Vorgänger. ›An ihren in Ehrfurcht geliebten, ihren innig geliebten, ihren treuesten Vaters!‹ So redet sie ihn an. Der Brief, ich will ihn nicht zeigen, es ist noch schrecklicher, wenn man auf dies alte Papier mit seinen vielen Tränenspuren, seiner auf und ab gleitenden Handschrift Obacht gibt, der Rand ist ein wenig verbrannt.«
»Herr Stiftsprediger, sie war wahnsinnig. Ich kenne auch die Handschrift, und in diesem Zustande kenne ich sie auch.«
»Ich glaube es nicht, Herr Graf. Der Brief trägt das Datum von vierzehn Tagen vor ihrem Tode. Ich will Ihnen den Inhalt abschwächen. Sie ist krank schon lange. Sie nennt ihre Krankheit: ein Hexenleiden. Sie wußte wohl besser, was sie damit sagte, als wir. Sie beschreibt es auch genau, doch das will ich Ihnen erlassen. Und nun fleht sie ihren geliebtesten, treuesten Vater an, er möchte sie noch einmal anhören. Als er bei ihr gewesen, habe sie vor Weinen nicht sagen können, was sie gewollt. Sie erinnert ihn, daß sie auf den Knien vor ihm gelegen auf dem Lindenstamm, daß sie die Steinplatten mit ihren Tränen benetzt habe, daß sie den hölzernen Stuhl, worauf er saß, geküßt habe, weil er ja ihre Hand nie wieder berühren wolle. Sie erkennt ihr Leiden an als Strafe ihrer Sünde. Ihrer großen Sünde, für die sie den Tod erleiden wird, einen Hexentod. Sie unterwirft sich unter das Gericht Gottes, das über ihr ist. Sie fleht ihn an, er möge ihr doch nicht länger den gesegneten Kelch des Herrn Jesu verweigern. Sie macht ihn auf die Folgen aufmerksam, wenn er dabei beharren werde. Sie wird nicht einmal neben den Ihrigen ruhen können, und ein Grab an der Kirchhofsmauer wird