Er blieb immer sehr kurz, auch wenn es den beiden leid tat. Und wenn ihn Harro hinausbegleitete, sagte er: »Ich darf Ihnen nicht zu viel Zeit nehmen, Herr Graf. Ich freue mich aber jedesmal, wenn ich Ihre Durchlaucht sehen kann.« Von den allerfeinsten Fäden, die zwischen den beiden, dem Lehrer und seiner Schülerin, liefen und wie himmlisches Gold erglänzten, konnte Harro nichts wissen und doch fühlte er sich leicht vor der Türe zwischen ihnen. Das hinderte ihn, sein Herz dem geistlichen Herrn so zu erschließen, wie es ihn doch oft verlangte. Seine Herrennatur widerstrebte. Aber um die Gisela von Brauneck im siebzehnten Jahrhundert konnte er ihn wohl fragen.
Zunächst versicherte ihm die Rose, daß ihr Lehrer nichts wissen könnte von dem, was in ihrem zweiten Leben eine so große Rolle spielte. So saß denn Harro wieder bei den vielen Büchern, nachdem er sich der jubelnden kleinen Erika entwunden hatte.
»Wir interessieren uns für eine Gräfin Gisela von Brauneck, die eine Thorstein war, und von deren Anteil an dem Chorwerk Sie schon gehört haben. Herr Rat hat nur sehr dürftige Notizen. Wohltätig und gütig gegen die Armen, es gibt Stiftungen auf ihren Namen, oder den ihres Mannes. Wissen Sie vielleicht etwas Näheres?«
»Ihre Leichenrede habe ich. Sie wissen, daß sie mit ihrem Gemahl zusammen begraben wurde. Er ist verunglückt, sie starb ihm nach.«
»Ach, darum,« rief Harro, »sie wurden überrascht, darum der Zustand des Chorwerks. Sie waren plötzlich davon gegangen, und mit ihrem Nachlaß wußte kein Mensch irgend etwas anzufangen. So ist sie denn auch verunglückt, daß sie starb?«
»Nein, sie hatte ein schweres und der damaligen ärztlichen Kunst rätselhaftes Leiden.«
»Himmel,« seufzte Harro, »muß das ein Glückspilz gewesen sein, dieser Braunecker Heinz! Macht die allerschönste Musik, hat die liebevollste Frau, die ihm dient und ihn ganz versteht, und wie die grauen Tage kommen, streckt er sich aus und siedelt in sein himmlisches Musikland über. Wer starb denn zuerst?«
»Er ging ihr voran. Es ist nicht sicher, um wieviel. Am selben Tage noch folgte sie ihm.«
»Sehen Sie, Herr Stiftsprediger, den Glücksmenschen! Das Licht aus den Augen mußte er nicht schwinden sehen. Und, Herr Stiftsprediger, wenn diese unmögliche Geschichte hier wirklich wahr werden soll, dann werden Sie den Mann jubeln hören: Jauchzet dem Herrn alle Welt, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken! So beginnt er. Aber ich will nichts vorweg nehmen. Er nahm ja alles vorweg, dieser Heinz, überließ die Mühe seiner Frau und die Arbeit meinem Freunde Hans Friedrich und schwelgte nur in dem künstlerischen Hochgenuß der Konzeption, schmierte seinen roten Bleistift hinein und überließ das andere mit einer großartig herablassenden Gebärde – ich sehe ihn vor mir, den Mann, Herr Stiftsprediger – seiner Frau und meinem Hans Friedrich.« Herr Stiftsprediger zuckte lächelnd die Achseln: »Die Götterlieblinge, Herr Graf. Er soll sogar nicht gestorben sein!«
Harro schaute auf. »Herr Stiftsprediger,« rief er. »Erzählen Sie, ich lasse nicht los, ich schlage Wurzel hier. Erzählen Sie mir das Märchen. Ich will es meiner Rose mitbringen.«
Der Herr Stiftsprediger tauchte in seine Papierabgründe und kam wieder mit einem ehrwürdigen Oktavblatt. »Das Märchen stammt sogar aus einer gedruckten Leichenrede, dem Teil, den man den Lebenslauf nennt. Von meinem Kollegen von dazumal.« Er las: »Ihr wisset alle, und ist keiner unter euch, die ihr mit tränenden Augen dasitzt, der es nicht schon gehört hätte, daß dieser hochselig Entschlafenen die Segensgabe verliehen sei, daß dieselben Seelen, welche in ihren Armen sich auf die himmlische Wanderschaft begaben, ein leichtes und seliges Ende hatten, wie ich als einer, den sein Amt an viele Sterbebetten führt, oftmals mit eigenen Augen zu sehen gewürdiget wurde. Es gilt von ihnen das Wort: Der Tod ist ein Schlaf worden. Da nun die Gräfin sähe, daß es mit dem seligen Grafen, unserm geliebten Jungherren, zu Ende gehe, und er sein junges Leben im Dienste eurer Kindlein werde verlieren müssen, erhob sie sich, die zuvor keine Kraft mehr gehabt hatte, und nahm euern geliebten Herrn in ihre Arme und neigte sich über ihn. Also daß ihr Schatten ihn ganz bedeckte, und verdeckte ihn mit ihren Haaren. Und erhob das Antlitz wieder und legte ihn hin. Da war seine Seele von seinem Leibe geschieden, wie wir in dem Lied gesungen haben:
Im Augenblick wird sie erheben sich
Bis an das Firmament,
Wenn sie verläßt so sanft, so wunderlich
Die Stätt' der Element'.«
Der Herr Stiftsprediger ließ das Blatt sinken. Harro war aufgesprungen. Er war totenblaß und seine Augen flammten.
»Der Schleier der Gisela,« rief er. »Herr Stiftsprediger, Sie wissen nicht, was Sie gefügt haben ... kommen Sie mit mir! Ihre Stube ist zu klein für mich, es erdrückt mich, oh, kommen Sie doch mit mir! Ich habe es immer gewußt, daß Sie der richtige Geheimnisträger sind. Ich war eifersüchtig, mißtrauisch, rüpelhaft. Ich bitte um Verzeihung... O Gott, haben Sie für jeden, der zu Ihnen kommt, solche Tröste vorrätig! Ich komme zu Ihnen und will etwas erfahren und rede keinen Ton davon, was ich eigentlich will, und es ist, als ob Sie wüßten, was für Höllenhunde mich jagen, was für Riesenweiber der Angst und Verzweiflung. Und Sie bücken sich in Ihren Kram und holen das einzige zwischen Himmel und Erde heraus, was mich trösten kann.«
Die stillen Augen des Herrn Stiftspredigers strahlten. »Herr Graf, wir alle leiden mit Ihnen, und ich habe Ihnen ja nicht ganz, ohne an Sie und Ihr Kreuz zu denken, den alten Tröster hervorgeholt, aber daß Sie es sich so anzueignen vermögen, das habe ich nicht hoffen können.«
»Kommen Sie mit mir,« flehte Harro, »ich brauche einen Himmel über mir, die Wände drücken mich.«
Die beiden Herren gingen die Straße hinunter zum Park. Harro stürmte voraus, daß der Stiftsprediger seinen langen Schritten kaum folgen konnte. Unter den alten hohen Kastanien, wo sich der Blick in das Tal mit seinem Silberfluß öffnete, blieb Harro stehen und lehnte sich an einen der dicken Stämme. Er hatte sich wieder gefaßt und streckte dem andern seine Hand hin.
»Sehen Sie, das ist der Ring des Heinz von Brauneck. Mein eigentlicher Verlobungsring. Ich trage ihn nun schon zwölf Jahre. Sie staunen, nicht wahr, daß ich so lange schon verlobt bin. Da war die Prinzessin elf Jahre. Der Fürst gab mir den Ring zum Dank für die sogenannte Rettung seiner Tochter. Er wählte ihn, weil mein eigenes Wappen darauf ist. Hier, den Spruch hätte sich keiner von uns herausgesucht. Lesen Sie: Gottes Will hat kein Warumb. Die Prinzessin, gab ihn mir feierlich und sagte: ›Er gehört dem Schönsten.‹ Niemand verstand sie damals. Herr Stiftsprediger, es gibt sehr wunderliche Dinge. Sie kennt ihn, so lange sie denken kann, den Glücksmenschen, der zur rechten Zeit zu sterben verstand. Sie kennt auch die Frau mit dem Charisma.«
Der Geistliche sah ihn verwundert an. »Sehen Sie,« fuhr Harro fort, »Sie verwundern sich, ich hoffe sehr, innigst hoffe ich, daß Sie mit einer Erklärung bereit sind. Es paßt in keine mir bekannte Weltanschauung hinein, dieses noch einmal auf Erdenweilen von Seelen. Nicht von Gespenstern.« »Meine Weltanschauung, an der ich schon lange zimmere,« antwortete der Stiftsprediger, »steht zwar in ihren Grundzügen fest, die ändert nichts mehr. Sie hat aber Fenster und Türen, wo noch allerhand herein kann. Ich lasse mich überraschen und werde mich überraschen lassen. Ich hoffe noch auf Überraschungen.... Ich denke mir übrigens, daß Sie gerne noch mehr von dieser Gräfin Gisela wissen möchten. Ich weiß noch einiges, wollte Ihnen aber zuerst mit diesem schönen Bilde kommen, ehe Sie das andere sehen.«
»Ein Geheimnisträger sind Sie, Herr Stiftsprediger, gehen neben mir her, wissen die Dinge, die mich schon aufs tiefste angegriffen haben... Die Rose hat recht. Ach, warum bin ich ein so blinder Maulwurf. Neulich ritt sie auf einem müden Schimmel an der Klinge an uns vorbei, während ich einen Ebereschenzweig herunterholte. Was gäb ich um einen Blick. Aber ich bin ein Maulwurf. Ich sehe nichts. Mein Gaul ist klüger, der wurde unruhig, was er sonst nie tut, wenn ich ihm sage: steh still. Ein Pferd sieht mehr wie ich.«
»Schmähen Sie Ihre Augen nicht,