Die Rose wendet sich nach rückwärts, da liegt Haus Thorstein, grau und glanzlos der düstere Bergfried darüber. »Ein wenig ausruhen, Harro.«
Ein kurzer mürrischer Wind seufzt in der Pappel, die Ebereschen sind voll leuchtend roter Beeren. Harro greift nach einem der reichbehängten Zweige und zieht ihn herunter. »Willst du?«
Sie nickt ihm zu und hebt ihre Augen wieder zurück, da sieht sie auf dem alten vergrasten Höhenweg eine Reiterin auftauchen. Scharf heben sich ihre Umrisse gegen den immer düsterer werdenden schwarzgrauen Himmel. Die Reiterinnen find in der Gegend durchaus nicht häufig. Und die Reiterin würde wohl überall auffallen.
Sie reitet einen stark mitgenommenen breitbrüstigen Schimmel mit absonderlichem, farbigen Zaumzeug und trägt ein grünsamtenes Reitkleid. Nicht dunkelgrün, sondern brunnengrün leuchtend wie das Moos an alten Brunnen. Aber auch das Kleid ist stark mitgenommen und befleckt. Sie hat ein kleines Barett mit dem gleichen Brunnengrün auf ihrem starken Haar, dessen Farbe man nicht erkennen kann, denn von dem Barett aus geht ein weißer Schleier, der wie bei Rosmarie um Haar und Hals geschlungen ist und dessen Enden hinten drein flattern. Ihr Sitz auf dem unmöglich hohen Damensattel ist auch nicht der beste, es sieht fast aus, als schwanke sie hin und her. Harro ist mit seinem Ebereschenzweig und seinem unruhigen Gaul beschäftigt, dem das Stehen nicht behagt.
Roses Augen öffnen sich weit, sie neigt sie ein wenig, um die Dame zu grüßen, denn in der Gegend wird sie ja kaum von jemand nicht gegrüßt, und sagt: »Harro, warum grüßt du nicht?« Denn eben reitet die Dame langsam auf ihrem erschöpften Schimmel an ihr vorbei. Nein, wie entsetzlich ihr ganzes Gewand ist, voll Flecken; schreckliche dunkle Flecken, wie sie nur eine Flüssigkeit der Erde hervorbringt: Blutflecken sind es. Sie ist doch nicht verletzt?
Wie sie an Rosmarie vorbeikommt, hebt sie langsam den Kopf und sieht sie an. Ein todblasses Gesicht, in dem zwei blaue Flammen von Augen glühen. Dunkelrote Lippen, die in einer unerhörten Pein aufeinandergepreßt sind. Und nun nickt sie ihr zu. Da erkennt sie: »O Gott, du –« Die Reiterin erhebt langsam ihre Hand, in der sie mit goldbesticktem braunem Handschuh die kleine Gerte hält, und deutet mit dem Knopf ihrer Gerte nach dem Hügel hinüber, wo schwer und dunkel und massiv mit seinen vier dicken Türmen hingelagert gegen die schwarze Wolkenwand Schloß Brauneck steht. Dann ist der müde Schimmel vorüber und die hohe Gestalt darauf um die Biegung des Wegs verschwunden.
»Nach Brauneck!« kommandiert Rosmarie mit ihrer hellen Stimme so scharf, daß Märt den Gäulen, die er ohnedies kaum ruhig halten kann, ihren Willen läßt und sie in schlankem Trab davonfliegen. Harro hat die größte Eile, mit seinem Ebereschenzweig wieder auf den Braunen zu kommen und holt sie erst bei der nächsten Kehre ein. Durch das Rollen der Räder und das Klappern der Hufe ruft er ihr zu: »Nun kannst du aber nicht mehr zurück!«
Den Braunecker Berg müssen die Goldfüchse im Schritt nehmen, denn nun ist kein Zweifel mehr, daß sich Rosmarie zu viel zugemutet hat. Zweimal halten sie, und der große, dunkle, schwarzgekleidete Herr, der ihnen begegnet und seinen Hut abzieht, erschrickt so sehr, daß er einen Augenblick stehen bleibt.
»Es ist der Herr Stiftsprediger,« flüstert Rosmarie und versucht ein Lächeln.
Einen jammervolleren Ritt hat Harro nie gemacht. Sie fahren den äußeren Weg entlang, und nun donnert der Wagen über die Brücke. Der Torschatten von Schloß Brauneck fällt schwer und düster auf den Thorsteiner Wagen. Sie halten vor der Waffenhalle, und ein paar schreckensbleiche Lakaien versammeln sich. Rosmarie liegt von den Armen der alten Dame gehalten in ihren Kissen mit groß aufgerissenen Augen und sonst keinem Lebenszeichen. Wenn sie die schlösse, würde man denken, sie sei tot. Der Ebereschenzweig liegt am Boden: die einzige Farbe in dem düster grauen Schloßhof, über den die schweren, tief herabhängenden Wolken jagen.
Harro hebt mit zusammengebissenen Zähnen seine Rose heraus, sie ist fast zu schwer für ihn, wenn sie sich so gar keine Hilfe geben kann. »Eine Tragbahre,« herrscht er die Leute an; aber ehe sie sich danach zerstreuen, hat er Rosmarie mit Märts Hilfe doch auf seine Arme genommen und trägt sie die Wendeltreppe hinauf den Prinzessinnengang entlang und legt sie auf ihr altes Muschelbett. Draußen strömt plötzlich ein Regenguß hernieder.
Rosmarie schließt langsam die Augen. »Nun ist das vorüber, nun ist das auch vorüber.« Man bringt sie schnell zu Bett, und der Herr Hofrat wird geholt, aber sie hat sich schon ausgestreckt und gesagt: »Nun werde ich aber schlafen, bis Vater kommt.« Denn der Fürst ist auf eine Domäne geritten.
Dann schläft sie so tief und fest, und allmählich kehrt die Farbe wieder in ihre Lippen zurück, und Harro muß sich sagen, daß die Sache eigentlich noch gut abgelaufen ist. Aber er sitzt in trübem Sinnen da und überlegt, bis wann sie wohl eine Rückfahrt wagen können. Nicht so bald, nein, nicht so bald. Und hier ist alles so gar nicht für Rosmarie geeignet. Treppen und lange Gänge und Höfe und der Park, der zudem gar nicht abgesperrt ist. Nur ein kleiner Teil, wo die Buchenlauben und die Teppichbeete sind. In Thorstein trägt man Rosmarie auf vier Stufen in den Garten, hier ist nur der Lindenstamm, auf den jetzt der Regen niederrauscht, so leicht zu erreichen. Man wird eine Tragbahre brauchen, überlegt er.
Rosmarie wacht auf. Zuerst weiß sie gar nicht, wo sie sich befindet, dann sinkt sie wieder in die Kissen zurück und verbirgt ihr Gesicht. Daraus kommt sie aber sehr lieblich hervor, und ihre Augen flehen ihren finsteren Harro an. »Sei mir nicht böse.« Er versteht den Blick und sagt: »Ich sehe noch nicht ein, warum es nötig war, dich und mich zu peinigen.«
»Ja,« sagt sie, »ich peinige dich. Aber Lieber, du weißt es vielleicht doch nicht so ganz, wie es ist. Wenn man sehr krank ist, meine ich, und die große Unruhe bekommt, wie die Schwalben jetzt, Harro... Ich glaube nicht, daß ich euch viel vorjammere, ich versuche wenigstens, es nicht zu tun, aber heute sollt ihr mich bemitleiden und »armes Kind« sagen und nicht streng sein, Harro.«
Sie strahlt ihn plötzlich an. »Oh, ihr werdet sehen, daß ich nun so lieb sein werde, wie ich immer bin, wenn ich meinen Willen bekommen habe. Sehr lieb, Harro!« sie streckt die blassen Hände nach ihm aus.
Nein, es ist ihr nicht zu widerstehen. Er hebt sie in ihren Kissen empor an seine Brust und sagt: »Mein armes weißes Schäfchen, nein, du jammerst uns nicht vor, und ich hole dir morgen deinen Herrn Stiftsprediger, ich habe plötzlich eine Liebe zu ihm gefaßt, weil er mit mir getrauert hat. Denk, er ist mit fliegenden geistlichen Rockschößen nach Berklingen gerannt, weil er wußte, daß dort der Hofrat war, und hat ihn heraufgeschickt. Und er soll dir das Gesangbuch hersagen und tröstliche Reden an dich halten, nur mich laßt ihr aus dem Spiele, und in das letzte Eckchen läßt du ihn gerade nicht hineinsehen. Versprich mir das.«
Und nun will sie gar nicht mehr bemitleidet werden. Nein, das ist wieder einmal ganz unnötig.
Eben hat Harro traurig sich überlegt, daß drüben sein Heinz ins Bett gebracht und nach seinem Alo weinen wird, als die Tür aufgeht und in seinem roten Mäntelchen, das rote Käppchen schief auf dem dunkelgoldenen Lockenbusch, der Heinz hereintrippelt. In höchster Seligkeit, denn er ruft: »Alo, Du Auto« und bläst dazu mit all seiner Lungenkraft.
»Ach, mein Heinz, mein Bub, ich bin froh, daß du da bist,« und er nimmt ihn auf die Knie an Mamas Bett.
Und nun kommt der Fürst herein. Niemand hat ihm zu sagen gewagt, wie seine Tochter angekommen ist. Jetzt sieht er sie fast rosig im Bett sitzen, Harro und den aufgeregten Heinz neben sich, und seine Freude ist groß und rührend, daß Harro seiner Rose doch wieder ein Stück vergeben muß.
Sie kommen alle nach Brauneck herüber, und das Goldhaus schließt ein Auge ums andere. Der Thorsteiner Nachtwächter haust in Märts Turm und bewacht mit seinem großen Schäferhund das Thorsteiner Anwesen, und das Licht im Vogel Rock leuchtet