»Ja, Katrin, das war es«, bestätigte Vera.
»Onkel Edgar hat ja auch gesagt, daß jeder mal was falsch machen kann«, fuhr Katrin fort, »und wo sie nun wieder da ist, und dazu noch ziemlich krank, und auch der Papa sie wieder liebhaben will, da will ich meiner Mutter auch nicht mehr böse sein.«
»Das ist sehr schön von dir, Katrin.« Gerührt und erleichtert streichelte Vera ihr über das blonde Haar. Hatte Jenny doch die richtigen Worte gefunden in einer äußerst schwierigen und heiklen Situation! »Und jetzt komm, dein Bruder und Laura fragen schon immer nach dir. Ich habe aber gesagt, sie sollten dich nicht stören. Onkel Edgar wird auch bald da sein.«
Dann holte Dieter Sasse seine Kinder heim. Zehn Tage später konnte Jenny die Klinik verlassen.
Damit ließ sie nicht nur das schmale Krankenbett und körperliches Leiden hinter sich, sondern auch die Erinnerung an einen Abend in Paris, an dem sie erkennen mußte, daß sie einer Illusion nachgejagt war.
Freudig überrascht hatte Vincent Marian sie empfangen, aber dann – dieses Unbehagen in seiner Miene, das sich in tiefe Bestürzung, ja förmlich in Entsetzen verwandelte, als sie ihm sagte, daß sie nun frei sei für ein Leben mit ihm. Das hatte er nicht gewollt – so nicht!
Er setzte dazu an, ihr klarzumachen, warum das undenkbar sei: Als Künstler brauche er seine Freiheit – Liebe und Leidenschaft, ja, aber doch keine Bindung. Da hastete sie schon davon, blindlings, in der brennendsten Demütigung, die eine Frau nur erfahren konnte.
Ihr Auto stand vor der Tür, ihr Auto mit den Koffern darin. Sie warf den Motor an und raste davon, irgendwohin, egal, es gab so viele Straßen, und die Nacht nahm sie auf…
Jenny hatte viel zu bewältigen gehabt in den langen Stunden im Krankenhaus. Sie hatte es geschafft. Noch fühlte sie sich schwach, wie Genesende sich eben schwach fühlten. Aber sie hatte nun eine große Aufgabe, die ihr Kraft geben würde. Diese Aufgabe bestand darin, gutzumachen, was sie ihrer Familie angetan hatte.
*
Die Wochen und Monate vergingen. Schon hatte der Wonnemonat Mai begonnen, der seinem Namen in diesem Jahr freilich wenig Ehre machte. Kühl und regnerisch zeigte er sich, die Menschen kamen aus dem Frösteln nicht heraus. »Wenn das so bleibt«, sagte Laura betrübt, »dann können wir meinen Geburtstag aber nicht draußen feiern.« Und sie freute sich doch so darauf, daß die Mama für sie ein richtiges Geburtstagsfest geben wollte, wie sie es sich kaum vorstellen konnte. Woher sollte sie auch?
Aber siehe da, der 16. war ein warmer, sonniger Tag. Vera hatte sich alle Mühe gegeben, eine lustig-bunte Dekoration auf der Terrasse anzubringen. Ein großer Tisch war mit Namenkärtchen versehen, die ein winziges Papierschirmchen oder ein Hütchen trugen und gerade waren die sieben Kerzen auf der Geburtstagstorte angezündet, als die ersten Gäste pünktlich kamen. Das waren Bärbel und noch zwei andere Klassenkameradinnen. Laura empfing sie mit glühenden Wangen. Wie aufregend war das doch, heute die Hauptperson zu sein!
Kurz darauf hielt der »Frosch« vor dem Haus, wie die Kinder den neuen Wagen von Jenny getauft hatten, weil er so grün war wie der Wetterfrosch. Den vorherigen, stark reparaturbedürftigen hatte Dieter seinerzeit in Frankreich gelassen. Es gab ein großes »Hallo«, erneute Glückwünsche und kleine Geschenke für das Geburtstagskind. Die kamen zu den anderen, mit denen Laura schon liebevoll bedacht worden war.
»Ich hab ja direkt einen Ehrenplatz«, stellte Claus vergnügt fest, als er seinen Platz neben Laura fand.
»Du bist ja auch der einzige junge Mann unter lauter Mädchen«, scherzte seine Tante Vera. Seine Mutter fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Daß du dich nur auch entsprechend benimmst!«
Dann durfte Laura die Geburtstagstorte anschneiden, und ihr Fest konnte beginnen.
*
Um dieselbe Zeit, am frühen Nachmittag, ging eine junge Frau in einem Mietshaus in der Kaiserstraße von Tür zu Tür und fragte nach einem Ehepaar Matthau, das einmal hier gewohnt haben sollte. Aber keiner der Bewohner konnte ihr eine Auskunft darüber geben.
Schließlich begegnete sie im Treppenhaus einer weißhaarigen Dame. Diese musterte die Fremde mit flinken Augen. »Wen suchen Sie hier? Matthau? Ja, an die erinnere ich mich noch. Die hatten ein Baby, ein Mädchen war das. Aber es war wohl nur angenommen, denn schwanger habe ich die Frau Matthau nie gesehen.«
»Ja, das müssen sie sein«, sagte die junge Frau hastig. »Sind die weggezogen? Haben Sie eine Ahnung, wo ich sie jetzt finden kann?«
»Nein, die sind nicht mehr aufzufinden. Das war ein ziemliches Theater damals, als die nicht wiederkamen. Nach Monaten hat der Vermieter die Wohnung räumen lassen. Keiner hat sich darum gekümmert, und die Miete wurde nicht mehr bezahlt.« Sie hob die Schultern. »Wissen Sie, das waren komische Leute. Nachbarschaftliche Kontakte gab es mit denen nicht. Wer weiß, was aus denen geworden ist.«
»Aber Menschen können doch nicht einfach verschwinden«, stieß die Jüngere hervor.
»Doch, doch, das gibt es schon. Davon hört man doch öfter, und im Fernsehen kommt es auch.« Ein neugieriger Ausdruck trat in ihre Augen. »Warum interessieren Sie sich denn so dafür, sind Sie am Ende eine Verwandte von den Matthaus?«
»Nein, das bin ich nicht. Ich wollte nur wissen, was aus dem Kind geworden ist.«
»Ach ja?« Forschend betrachtete die alte Dame die junge Frau, die unentschlossen stand. Sie hätte gern weiter gefragt, aber irgend etwas in der Miene der anderen verbot es ihr. »Da kann ich Ihnen leider nicht helfen… Aber, warten Sie mal, da war doch mal was?«
»Ja, was denn?« kam es voll geheimer Spannung zurück.
»Hm, da ist nämlich jemand von einem Kinderheim gekommen, der hat auch hier überall herumgefragt nach den Matthaus. Ja, richtig, das fällt mir jetzt wieder ein.«
»Von einem Kinderheim?« fragte die junge Frau entsetzt. »Was für ein Kinderheim war das, wie hieß es?«
»Wenn ich das noch wüßte. Es ist doch schon viele Jahre her.«
»O bitte, versuchen Sie sich zu besinnen. Es ist ungeheuer wichtig für mich.« Es klang erregt und flehend.
»Es war ein Name«, überlegte die andere. »Ja, ein Frauenname, irgendwas mit Maria… Aber weiter weiß ich nicht. Beim besten Willen nicht, tut mir leid. Sehen Sie doch mal im Telefonbuch nach, ob Sie da etwas finden.«
»Ja, das werde ich tun. Sie haben mir sehr geholfen. Ich danke Ihnen.« Damit eilte sie schon davon. Kopfschüttelnd sah die alte Dame ihr nach. Sie hatte nun etwas zum Nachdenken, welche Zusammenhänge es da wohl gab.
*
»Guten Morgen, Frau Behrend«, sagte Vera, etwas erstaunt über den Anruf am frühen Morgen.
Die Heimleiterin kam ohne Umschweife zur Sache.
»Gestern war eine junge Frau bei mir, die sich als Mutter von Laura ausgibt. Sie heißt Alice Pavel und kommt aus Rumänien.«
Vera mußte sich setzen. »Was will sie?« fragte sie. Wahrscheinlich war das eine törichte Frage, denn lag die Antwort nicht klar auf der Hand?
»Sie will ihr Kind sehen«, sagte Adele Behrend denn auch. »Vorher möchte sie aber mit Ihnen reden. Wann würde es ihnen denn passen?«
»Ja, ich weiß nicht – das kommt mir jetzt so überraschend…«, brachte Vera hervor.
»Sicher, mir ging es nicht anders, Frau Gerstner. Das Haus Maria Barein hatte sie an uns verwiesen.«
»Aber wenn sie wirklich die Mutter ist, wieso besinnt sie sich dann erst nach sieben Jahren auf ihr Kind?«
»Das ist eine lange Geschichte, die Frau Pavel Ihnen selber erzählen wird. Ich zweifle eigentlich nicht an der Wahrheit ihrer Darstellung. Es besteht auch eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Laura. Entschuldigen Sie, Frau Gerstner, ich muß um neun zu einer wichtigen, unaufschiebbaren Besprechung ins Jugendamt. Sagen Sie mir bitte,