Jenny drehte den Kopf beiseite.
»Ich war wahnsinnig«, sagte sie. Und, nach einer langen Minute schweren Schweigens: »Hast du Claus und Katrin zu Vera gebracht?«
»Ja. Wenn wir sie nicht hätten!«
Jenny nickte schwach. »Vera hat von Anfang an mit aller Eindringlichkeit versucht, es mir auszureden. Hätte ich nur auf sie gehört. Dann läge ich jetzt nicht hier und wüßte nicht, wie es weitergehen soll, das alles.«
»Du wirst gesund werden und wieder bei uns sein«, sagte Dieter fest.
Sie starrte gegen die Decke. »Wie soll ich denn nur vor unsere Kinder hintreten?« fragte sie leise.
»Du konntest es doch immer, wenn du von ihm kamst«, hielt Dieter ihr mit einer gewissen Härte entgegen. »Also mußt du jetzt auch da durch.«
Als sie nichts darauf sagte, ihr nur die Schamröte ins Gesicht gestiegen war, beugte er sich etwas näher zu ihr.
»Jenny, dir wie mir war die Welt aus den Fugen geraten, und es hat furchtbar weh getan. Was uns noch an Kraft geblieben ist, müssen wir darauf verwenden, die Bruchstücke wieder zusammenzufügen. Es wird Zeit brauchen. Aber vielleicht wird es uns gelingen.«
*
Vera trug das Mittagessen auf, als Edgar mit Katrin und Claus kam. Er hatte sie von der Schule abgeholt, denn der Weg war doch ziemlich weit.
»Sagst du es ihnen jetzt, Mama?« wisperte Laura. Bei ihr war die letzte Stunde ausgefallen, sie war schon eine Weile zu Hause, und sie war dabeigewesen, als der Anruf kam. Seitdem war die Kleine auch ganz aufgeregt.
»Euer Papa hat angerufen«, sagte Vera. »Er ist mit eurer Mutti unterwegs nach hier.«
Reglos verharrten die beiden. Sie starrten die Tante nur mit großen Augen an. Dann fragte Claus atemlos, mit rotem Kopf: »Kommt die Mama denn zu uns zurück?«
»Ja«, antwortete Vera, »sie kommt zurück. Sie wird mit dem Krankenwagen gebracht, der Papa fährt hinterher und bringt sie hier in ein Krankenhaus, denn es wird noch eine Weile dauern, bis sie wieder ganz gesund ist.«
»Und dann?« stieß Katrin hervor.
»Dann wird hoffentlich alles wieder gut werden«, sagte Vera mit einem ernsten Blick. Sie setzten sich um den Tisch.
»Ich hab immer gedacht, daß das doch gar nicht wirklich sein könnte, daß Mama für immer von uns fort wollte«, murmelte der Junge vor sich hin.
»Aber sie wollte es!« begehrte Katrin auf. »Vergessen kann ich das nicht, daß sie uns wegen einem anderen Mann alleinlassen wollte. Und unser Papa? Kann er sie denn wieder liebhaben?«
»Katrin«, Edgar legte sein Besteck hin, »eure Mutter hat einen Fehler begangen, den sie sehr bereut. Jeder Mensch, auch der liebste und beste, kann einmal in die Irre gehen. Dann muß man auch verzeihen können. Seid doch froh, daß sie am Leben geblieben ist. Dieser Unfall hätte auch anders ausgehen können.«
»Dann hättet ihr keine Mama mehr gehabt«, flüsterte Laura, tief beeindruckt von dem Geschehen, das sie hautnah miterlebte.
»Ich«, sagte Claus, und er holte tief Atem dabei, »ich geh gleich zu Mama, wenn sie da ist, und ich sag ihr, daß es ganz fürchterlich war, das alles, aber daß ich es echt richtig nie geglaubt habe.«
»Ja, du!« Katrin streifte ihren Bruder mit einem kurzen Blick. »Aber ich wohl. Weil sie uns ja schon aufteilen wollte.«
Mit Katrin wird es Jenny nicht einfach haben, ging es Vera durch den Sinn. Aber nichts würde einfach sein. Dafür war zuviel zerschlagen worden.
Am späten Abend, als die Kinder schon schliefen, tauchte Dieter noch überraschend auf. »Entschuldigt, daß ich euch so spät noch störe, aber da ich noch Licht im Wohnzimmer sah…«
»Du störst uns nicht. Komm herein«, sagte Edgar.
Vera ging ihrem Schwager entgegen. »Wie geht es Jenny?« war ihre erste Frage. »Es war doch eine lange Fahrt.«
»Ja.« Dieter sah erschöpft und zugleich erleichtert aus. »Sie hat sie aber ganz gut überstanden und wurde vorhin in der Klinik noch ärztlich versorgt. Wir alle müssen ihr jetzt beistehen.«
Mit einem langen Blick sah Edgar Jennys Mann an. »Ich kann dich nur bewundern, Dieter«, sagte er langsam. »Nicht jeder würde soviel Haltung zeigen.« Es klang achtungsvoll und sehr aufrichtig.
»Bewundern, o Gott.« Dieter fuhr sich mit der Hand über seine brennenden Augen. »Jenny ist aus ihrem Taumel sehr tief gestürzt. Einer mußte sie doch auffangen.«
Vera hatte aus der Küche Brot, Butter und Käse geholt. Sie baute alles auf dem Tisch auf, stellte eine Flasche Bier dazu. »Du hast bestimmt heute kaum etwas gegessen, Dieter«, sagte sie.
Ihr Schwager lächelte schwach. »Wenn ich sehe, was du da bringst, dann fällt mir ein, daß ich tatsächlich Hunger habe.«
Sie saßen noch ungefähr eine halbe Stunde beisammen. Dieter wollte wissen, ob er Katrin und Claus morgen noch bei ihnen lassen könnte.
»Morgen und übermorgen und solange es nötig ist«, gab Vera zurück. »Wir haben uns darauf eingerichtet und kommen schon zurecht.«
Er trank den letzten Schluck aus seinem Glas. »Wie haben sie es aufgenommen?« fragte er unsicher. »Ihr habt es ihnen doch sicher schon gesagt.«
Vera nickte. »Zum Jubeln ist es für sie noch zu früh«, meinte Vera ernst. »Sie müssen es doch auch erst verwinden.«
»Claus wird es eher schaffen«, meinte Edgar. »Bei Katrin sitzt es tiefer. Mit ihr werdet ihr Geduld haben müssen.«
Dieter sah auf seine Hände. »Geduld und viel guten Willen werden wir alle nötig haben, um wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden«, sagte er schwer. Dann stand er auf. »Habt Dank für alles. Es hat mir gutgetan, noch mit euch reden zu können.«
»Das ist doch selbstverständlich«, sagte Vera herzlich.
*
Am nächsten Tag fuhr Vera mit Claus ins Krankenhaus. Katrin hatte nachmittags Schule, Laura war bei Bärbel. Vera erschrak darüber, wie gealtert Jenny ihr vorkam. Sie hatte eigentlich kein Mitleid mit ihr haben wollen. Aber da lag sie nun, die so hochgemut ausgezogen war, um mit ihrem Geliebten ein neues Leben zu beginnen, geschlagen, gestraft.
Claus war, eingeschüchtert von dieser Umgebung, an der Tür stehengeblieben. Erst als seine Mutter einen Arm nach ihm ausstreckte, näherte er sich ihr auf Zehenspitzen. Stumm sahen sie sich an. Jenny traten die Tränen in die Augen, auch im Gesicht ihres Sohnes zuckte es.
»Es war alles nicht wahr, nicht, Mama?« stammelte der Junge.
»Nein, es war alles nicht wahr«, brachte Jenny über die Lippen. Sie begegnete Veras Blick, und diese verstand. Sie hatte an eine große Liebe geglaubt, und es war doch nur ein Strohfeuer gewesen.
Katrin fuhr einen Tag später zu ihrer Mutter, allein. Das hatte sie so gewollt, und Vera ließ sie. Sie war ja schon ein großes Mädchen, mit ihren fast dreizehn Jahren.
Als sie wiederkam, war es, als sei sie nun kein Kind mehr. Wortlos zog sie sich zurück und ging an ihre Schularbeiten. Vera fragte sie auch nichts. Erst als es Zeit zum Abendessen wurde und Katrin sich immer noch nicht rührte, ging sie zu ihr. Da saß ihre Nichte, das Kinn in die Hand gestützt, und sah vor sich nieder. Vera trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Hast du denn heute soviel auf, Katrin?«
Katrin hob den Kopf. Ihr Gesicht trug immer noch einen nach innen gekehrten Ausdruck, und die blaugrauen Augen blickten ernst.
»Meine Mutter hat mit mir geredet, als wäre ich schon erwachsen, Tante Vera«, sagte sie unvermittelt. »Ich kann sie jetzt besser verstehen. Der Papa hat ihr nie mehr so richtig gezeigt, daß er sie liebhat, und wir eigentlich auch nicht. Sie war eben da, und das war selbstverständlich. Dann hat