Ein kleines Mädchen aus dieser Straße namens Bärbel war auch eingeschult worden. Vera fand Kontakt zu Bärbels Mutter, sie trafen sich auf dem Schulweg, den sie die Kinder zunächst nicht allein gehen ließen und sie tauschten ihre Erfahrungen aus. Es war ein neues Gefühl für Vera, sich nun als Mutter zu fühlen und mitreden zu können.
Dann fanden Laura und Bärbel den Weg allein, der für sie ohne Gefahren war, und da sie sich angefreundet hatten, blieb auch Vera mit Frau Schuler in freundlicher Verbindung. Man stand mehr im Leben, wenn ein Kind da war.
Ihre Schwester Jenny hatte zu der Veränderung im Haus nicht viel gesagt. »Es muß jeder selber wissen, was er tut«, war ihre einzige Äußerung gewesen. Wußte sie es?
Vera fragte sich das manchmal in banger Sorge. Jenny zog sie nicht mehr ins Vertrauen. Sie hielt sich fern von ihr, was nichts Gutes ahnen ließ.
Katrin und Claus waren mit der Schule beschäftigt und mit ihren Freundinnen und Freunden, die sie reichlich hatten. Manchmal kamen sie aber doch, um ihre Tante Vera zu besuchen. Inzwischen hatten sie es akzeptiert, daß Laura nun dazugehörte.
»Aber wieso darf sie Mama zu dir sagen?« hatte Katrin fast entrüstet gefragt, als sie es zum ersten Mal aus Lauras Mund hörte. »Tante reichte doch auch, wo sie nur ein fremdes Waisenkind ist.«
»Wir sind ihre Pflegeeltern geworden, Katrin«, erklärte Vera dem Mädchen ernst, »und für Laura ist das etwas ganz Großes, Schönes, mich so nennen zu dürfen, weil sie doch nie eine Mutter gehabt hat.«
»Dann lassen wir sie doch«, meinte Claus, der immer der Friedlichere und Gutmütigere von ihnen war.
Katrin, die auf Äußerlichkeiten Wert legte, fand, daß Laura allmählich auch netter aussah. Sie war nicht mehr so spindeldünn, ihr Gesicht zeigte etwas Farbe und hatte sich sanft gerundet. Immer hübsch angezogen, war sie weit entfernt von dem »Bettelkind«, als das Katrin sie früher betrachtet hatte.
Eines Tages im Spätherbst rief Katrin bei ihrer Tante an.
»Könnten Claus und ich wohl übers Wochenende bei euch sein, Tante Vera? Mama ist nämlich nicht da, und Papa müßte ganz dringend zu einer Kunstauktion nach London fliegen. Das wußte er vorher nicht, es geht aber um was sehr Wichtiges.« Sie holte Atem, weil sie das nur so hervorgesprudelt hatte.
»Wo ist eure Mutter denn?« fragte Vera, bei der eine Alarmglocke anschlug.
»Sie ist zur Hochzeit bei einer Freundin eingeladen«, antwortete Katrin. »Geht das, daß wir kommen, weil Papa nicht möchte, daß wir allein im Haus bleiben. Fänden wir auch nicht so schön.«
»Warum ruft euer Papa mich denn nicht selber an?«
»Ach, der rauft sich die Haare, weil das jetzt so blöd zusammentrifft, und er meint, ihr hättet doch jetzt die Laura und auch nicht mehr soviel Platz.«
»Für euch habe ich immer Platz, Katrinchen. Richte das dem Papa aus.«
Sie kamen schon am Freitag abend, brachten ihr Nachtzeug mit und berichteten wortreich, wie es bei ihnen zu Hause derzeit zuging. Die Mutter nicht da, der Vater überlastet, und Frau Müller konnte auch nicht kommen, weil sie den Fuß in Gips hatte. »Wir sind total gestreßt«, behauptete Katrin.
»Na, dann ruht euch hier mal aus«, sagte Vera, trotz allem ein wenig erheitert über die dramatische Schilderung der Zustände.
Am Sonnabend schlug Edgar vor, daß sie alle zusammen in den Zirkus gehen sollten. Das Zelt würde geheizt sein, da konnte ihnen das ungemütliche Wetter mit Regen- und Graupelschauern nichts anhaben.
»Ich mag aber keine wilden Tiere sehen«, sagte Katrin. »Die brüllen und stinken nur.« Daraufhin machte auch Laura ein ängstliches Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, wie es in einem Zirkus war. Aber wenn Katrin, die doch schon groß war und immer überlegen tat, davor zurückschreckte, wollte sie da auch nicht hin.
»Pah, was sind Mädchen doch für Angsthasen«, spottete Claus. »Die Löwen sind doch hinter Gittern und können einem gar nichts tun.«
»Meinste, das wüßt’ ich nicht?« fuhr seine Schwester ihn an. »Ihr könnt ja gehen, hab ich doch gar nichts gegen.«
Bevor die beiden sich wieder in die Haare gerieten, griff die Tante vermittelnd ein. »Dann geht Onkel Edgar eben nur mit Claus. Aber du, Laura, möchtest du das nicht auch mal erleben? Das ist schon schön, du wirst es sehen. Da sind auch Clowns und Tänzerinnen, und vieles ist ganz lustig.«
»Weiß nicht«, wisperte die Kleine unentschlossen.
»Klar kommst du mit!« rief Claus. »Wir nehmen dich in die Mitte, da kann dir überhaupt nichts passieren.« Bei Laura fühlte er sich immer ein wenig in der Beschützerrolle.
So blieb Vera mit ihrer Nichte zu Hause.
»Ich wollte das gern, Tante Vera, mal mit dir allein sein«, gestand die Zwölfjährige und zupfte an den Ärmeln ihres Pullovers.
Aufmerksam sah Vera sie an. Sie erschien ihr irgendwie bedrückt. »Was hast du denn auf dem Herzen?« fragte sie sanft.
Katrin druckste noch ein bißchen herum, bevor sie herausplatzte: »Ich glaub, die Mama hat Geheimnisse vor uns.«
Veras Herz tat einen rascheren Schlag. »Hast du denn einen Grund, das anzunehmen?« fragte sie vorsichtig.
Katrin hob die Schultern und nickte gleichzeitig unsicher. »Manchmal telefoniert sie, auch schon mal von der Telefonzelle, da hat meine Freundin Stefanie sie mal gesehen und fand das auch komisch. Und zu Hause, wenn ich da unvermutet dazukomme, legte sie ganz schnell auf und ist rot im Gesicht. Und wenn ich sie frage, wer das denn war, lügt sie. Doch, Tante Vera«, ihre braunen Augen blickten ernst, »ich weiß genau, daß sie lügt.«
»Das kann ich mir aber gar nicht vorstellen«, murmelte Vera. Und sie dachte: Jetzt fange ich auch schon damit an. Mit wem sonst als mit Marian würde sie telefonieren? Aber das konnte sie Jennys Tochter nicht sagen.
»Und daß sie jetzt weggefahren ist«, fuhr Katrin fort, »zu einer Freundin Franziska, weil die heiratet. Von der haben wir früher nie was gehört. Hast du da schon mal was von gehört, Tante Vera?«
»Doch, ja, ich erinnere mich…« Eine Franziska hatte es tatsächlich irgendwann einmal gegeben.
»Mama war ja neulich schon mal dort, aber nur kurz. Dann hatte sie den Zug verpaßt und mußte über Nacht bleiben. Sie hätten sich ganz lange nicht gesehen, darum wüßten wir nichts von der. Ist doch auch komisch.«
»Ach, das gibt es schon, Katrin. Man kommt mit Jugendfreunden auseinander, und irgendwann hört einer wieder vom anderen, und dann ist die Freude groß.«
»Ja, wenn du meinst.« Das Mädchen sah auf seine Finger und bewegte sie. »Papa glaubt Mama ja auch alles. Aber ich…« Katrin zögerte, »ich hör so viel in der Schule. Bei der Gaby hat der Vater eine Freundin und will sich deswegen von ihrer Mutter scheiden lassen. Gaby hat schon geweint, und bei einer anderen Mitschülerin ist es umgekehrt, da ist die Mutter zu einem Freund gezogen, dann ist die Oma gekommen und versorgt jetzt sie und ihre kleine Schwester. Und in den Fernsehspielen sieht man auch oft so was.« Sie biß sich auf die Unterlippe und ließ den Kopf hängen.
Vera schwieg etwas ratlos. Wie gern hätte sie ihrer Nichte jetzt überzeugend klargemacht, daß bei ihren Eltern an dergleichen doch nicht zu denken war. Aber Katrin war kein Kind mehr, wie sich zeigte. Die Mädchen wurden heutzutage früh reif, mit zwölf wußten sie mehr als ihre Mütter mit siebzehn, von früheren Generationen gar nicht zu reden.
»Ich hab’ echt Angst, daß Mama auch so jemand hat«, murmelte Katrin gepreßt. »Aber wer sollte das bloß sein?«
»Ja, eben«, murmelte Vera. Sie straffte sich. »Ich werde mal mit deiner Mutter reden, wenn sie zurück ist, Katrin. Sicherlich wird sich alles, was dir jetzt seltsam vorkommt, auf harmlose Weise erklären lassen.« Dabei versuchte sie, wider besseren Wissens, Festigkeit in ihre Stimme zu legen.
Katrin