Bevor ich den Schreck überhaupt verdauen konnte, kam die Verkäuferin auf mich zu. »Kann ich Ihnen helfen?«, sprach sie, freundlich lächelnd, die mir verhasste Standardfrage der Verkäufer aus. (Verdammt noch mal, mir ist nicht mehr zu helfen!) »Äh, ja«, stotterte ich und versuchte, mich zu sammeln. »Ich suche einen Slip für meine Mutter. Die liegt gerade im Krankenhaus.« So sprach ich meinen ersten, vor dem Spiegel einstudierten Satz, der überzeugend wirken sollte. Die hübsche, geschickt geschminkte Verkäuferin (ihre Mutter war sicher Verkäuferin bei Douglas) sah mich mitleidig an. Dieser Blick gefiel mir, gerade in meiner Situation. Ich fand das gar nicht so übel. So bemitleidete sie mich für etwas, was sie gar nicht wusste – eine tolle Sache. »Welche Größe hat ihre Mutter denn?« »44 bis 46«, brachte ich unwillig hervor und versuchte, gelangweilt auszusehen. »Ich zeige Ihnen gleich mal einige Slips«, meinte sie hochmotiviert und wies in die Ecke des Ladens. Dann kam das absolut Unvermeidbare. Ich folgte ihr wie in Trance, ahnend, welche Hürden es nun zu überwinden galt, zu einem Wühltisch, in dem sich die mir jahrzehntelang verhassten »Baumwollzelte«, wie ich sie stets überheblich zu nennen pflegte, befanden. Ich war der vollen Überzeugung, dass ich niemals, wirklich niemals (nicht einmal mit 70 Jahren) solche Dinger tragen würde! Sie sahen tatsächlich nicht einmal im Entferntesten einem Slip ähnlich und ich zweifelte daran, im richtigen Geschäft zu sein. (Vielleicht hatte ich mich in einen Laden für Hobbycamper verirrt? Ich hasste Campen, schon immer. Zu viel Chaos, zu wenige Rituale.) »Schauen Sie, hier gibt es viele Varianten: Die hohe Variante«, fuhr die Verkäuferin in einem Ton fort, als ob ich mich zwischen einem Zwei- oder Vierpfundbrot entscheiden müsste. Die niedrige Variante, die sie mir dann zeigte, war schon enorm hoch für mich. Also gestikulierte ich mimikreich, dass meine Mutter wohl doch eine recht moderne Frau sei und ich sie lieber noch einmal fragen würde. Wie ein Feger verließ ich den »Hobbycamper« und verschwand für den Rest des Tages in meinem Taschentuch.
Rückblick: »Was ist mit dir los?«, hatte Mutter vor drei Monaten gefragt, als ich sie das letzte Mal sah. »Was konkret meinst du?«, entgegnete ich, obwohl ich wusste, dass ich mir diese Frage hätte sparen können. »Na, wenn du schon krank bist, musst du dich nicht auch noch vollfressen und solche körperlichen Ausmaße erreichen!«, plärrte sie mich an und ihre Stimme überschlug sich hysterisch. Sie fragte nicht, wie es mir ging. Sie fragte nicht, ob ich die Medikamente vertrug, welche Spuren diese Chemiekeulen in meinem Körper hinterließen. Sie besuchte mich nie im Krankenhaus. Sie fragte nichts, was eine Mutter fragen sollte. Seit ich denken konnte, befand sie sich in dieser Nahrungssklaverei und hinterließ in mir nichts anderes als Essstörungen. Fünfzehn Jahre kotzte ich mir fast die Seele aus dem Leib, um dünn zu sein und arbeitete mich krank, um ihr und den anderen Leistungssüchtigen der Familie zu genügen. Als ich dann dünn war, fühlte ich mich leichter, aber auch meines Glaubens an mich selbst beraubt. Eines Tages machte mir ein Arzt klar, dass ich sterben würde, wenn ich nicht in eine Klinik ginge. Ich hatte keine Lust auf Gevatter Tod, zumal ich ihm schon einmal begegnet war. Es war keine sonderlich angenehme Begegnung. Ich wollte leben – und vor allem lebendig sein.
»Zieh einen kurzen Rock an«, hatte mir Mutter vor der Feier zu ihrem 60. Geburtstag befohlen. »Und trag endlich mal Farben!«, gackerte sie weiter. Ich zog einen Rock an, trug rot (ich hasste rot!) und zupfte den ganzen Abend an meiner Kleidung herum. Das war nicht ich! Ich trug damals gern Hosen, kleidete mich lieber schlicht und eher unauffällig. In einem dieser Momente, als ich meinen Rock zu richten versuchte, fauchte mich Mutter an: »Was machst du denn da? Das ist ja furchtbar!« »Nächstes Mal ziehe ich an, was ich will!«, giftete ich mutig zurück und fühlte wieder jene Wut in mir aufsteigen, die ich aus den letzten Jahren kannte. Wer war diese Frau, die mich so attackierte? Ich, die sich sonst immer so ergeben und liebeshungrig verhielt, rollte mich ein, wurde unantastbar und nicht zu durchdringen; für einen Bruchteil meines Lebens fühlte ich mich unverletzlich. Die Krankheit, die mich vor einem Jahr eingeholt hatte, empfand ich als Strafe dafür, dass ich bis vor 15 Jahren mit meinem Leben spielte und dem Tod die Gelegenheit gab, mich als Opfer ins Auge zu fassen. Doch wieder ließ ich mich nicht von ihm einschüchtern. Er war noch viel träger als ich.
Freundinnen
Am nächsten Tag rief ich meine Freundin Anika an. Ich fühlte mich bis aufs Äußerste strapaziert und die Ausweglosigkeit faulte in mir, wie ein zu lange liegengelassener Apfel. Anika meldete sich wie immer und als sie mich hörte, brachte sie auch wie immer ihre Freude zum Ausdruck. »Gesundes neues Jahr, meine Liebe!«, säuselte sie in den Hörer und ich wünschte ihr das auch, natürlich im Eilzugtempo. Alles dauerte mir zu lange, auf meiner Zunge lag ein gallebitterer Geschmack, meine geschundene Eitelkeit blähte sich auf und drohte zu platzen. »Dass alles besser wird als im letzten Jahr und du gesünder wirst …« bla, bla, bla. Anika schien heute guter Dinge zu sein. »Ja, danke, meine Liebe«, säuselte ich zurück und verschluckte die garstigen Worte, die meine Kehle hochkrochen (»Halt endlich deinen Mund, lass die Floskeln sein und tröste mich. Sofort! Sonst komme ich auf dein Amt und erwürge dich!«) Doch dann sprudelte es aus mir heraus. Mein ganzes Elend spritzte regelrecht durch die Löcher des Telefonhörers. Anika war auf Arbeit, aber zu meinem Glück an diesem Tag allein im Zimmer. So konnte ich meinem Kummer freien Lauf lassen. Anika schwankte nicht zwischen Lachen und Bedauern, sie entschied sich für beides: Sie lachte und bedauerte mich, sie stimmte mir zu und wies mich zurecht. Ach, ich liebte sie an diesem Tag ganz besonders. Nun fand ich es gar nicht mehr schlecht, dass sie so guter Dinge war. »Hör zu, meine Liebe.« Oh ja, ich sperrte meine Ohren auf.
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Du bist endlich erwachsen geworden!«, sagte Anika schlicht und ergreifend. Sekundenlang war es still in der Leitung. »Hallo, Sonne?« Anikas warme Stimme drang endlich durch mich hindurch. »Erwachsen«, wiederholte ich mit brüchiger Stimme und versuchte, das Wort langsam zu wiederholen. »Ja, klar. Mensch, du warst früher viel zu dünn! Manchen Frauen steht es einfach nicht, so dünn zu sein und du gehörtest definitiv dazu. Dein Gesicht war zu spitz und du hast manchmal ausgesehen, als würdest du dich auf Dauermagerkurs befinden! Jeder, der dich sah, musste den Impuls bekommen haben, dich umgehend und ohne jegliche Verzögerung mit einem fetten Essen versorgen zu müssen!« (Was? Mich hat nie jemand zum Essen eingeladen, sie müssen beim Impuls abgestorben sein oder Anika spinnt.) »Du bist verheiratet und kommst eben in die Jahre. Gut so, glaub mir!« Och nee, dachte ich. »In die Jahre also …« Wie konnte Anika das so schonungslos formulieren? In die Jahre, betagt, nicht mehr ganz jung, verbraucht, ausgedörrt, verkommen … Was? Und wieso war ich damals zu dünn? Ich fand mich gut so, hatte mich wohlgefühlt. Ich ging in den Laden und kaufte mir, was mir gefiel, ohne kaschieren zu müssen und das alles in der wundervollen, phantastischen, anmutigen und gesellschaftstauglichen Konfektionsgröße 38 (und in meinen besten Zeiten sogar 36). »Außerdem hattest Du vor einem Jahr die Operation, das spielt bestimmt auch noch eine Rolle.« Anika war immer schon die Vernünftige und Erwachsene, deshalb mochte ich sie auch so sehr. Sie war die Realistin, ich der Emotionsbolzen. Sie analysierte die Dinge so, als ob sie eine Matheaufgabe lösen würde. Aber manchmal nervte es mich einfach. (Sie hatte doch nicht etwa Recht?).
»Anika, jetzt muss ich mir alles neu kaufen und in dieser Größe gibt es nichts Flottes!« »Ich habe diese Konfektionsgröße auch und laufe nicht nackt durch die Gegend! Du wirst nicht sterben, sondern dich neu einstellen. Das ist alles, ganz einfach.« Ganz einfach also? Einfach? Anika war der mütterliche Typ und seit ich sie kannte, trug sie den gleichen Stil, nichts anderes. Sie hatte leicht reden. Aber ich konnte auch nicht zu ihr sagen: »He, meine Liebe. Deine Klamotten sehen nach Oma aus und so will ich nicht rumlaufen!« Ich war nie eine, die nahestehenden Menschen ohne Nachzudenken auf den Schlips trat. Als hätte sie meine Gedanken gehört, meinte Anika