Lohnt sich Gier mehr als Geduld?
»Ich stimme dieser Kritik weitgehend zu und habe die Wissenschaftler sogar ermuntert, ihre Einwände zu veröffentlichen«, räumt Milan Ćirković ein. »Ich persönlich denke, dass die Ästivation-Hypothese nicht die richtige Lösung des Fermi-Paradoxons ist.«
Freilich sind dies zwei verschiedene Fragen: ob die Ästivation-Hypothese wahr ist und wie sich das Fermi-Paradoxon lösen lässt. Versagt die Annahme der Ästivation bei der Lösung, macht es diese Annahme unplausibel, aber noch nicht falsch.
Bennett und seine Kollegen widersprechen jedoch der These, dass es günstig sei, möglichst früh möglichst viel Masse und Energie zu sammeln sowie für spätere Zeiten zu horten, in denen die Hintergrundstrahlung kälter ist und sich effizienter für die Abgabe der Abwärme nutzen lässt. Tatsächlich könnte sich Gier sogar mehr lohnen als Geduld: Reversible Entropie-Umschichtungen in Reservoiren sind möglich, solange Materie zugänglich ist – daher sollten hoch entwickelte Zivilisationen so viel vom Universum in Besitz nehmen, wie es geht, weil ihnen das insgesamt mehr Spielräume eröffnet. Das gilt nicht nur für Rechenzwecke, sondern für jede Art von Arbeit, beispielsweise auch an galaktischen Großbaustellen.
Von solchen Riesenprojekten, etwa der Ummantelung von Sternen zur Energiegewinnung (sogenannten Dyson-Sphären) oder Kollektoren bei Schwarzen Löchern haben Astrophysiker bislang allerdings keine Spuren entdeckt. Dabei kommt eine solche kosmische Ingenieurskunst nicht ohne Emission von Infrarotstrahlung aus.
Daher lässt sich die Auswanderung in die Zukunft, die Ästivation, auch nicht einfach abweisen – ebenso wenig wie die Auswanderung in die Ferne hin zu den Außenbezirken der Galaxien. Vielleicht können oder wollen manche postbiologischen Superzivilisationen gar nicht expandieren, um sich nicht zu verzetteln oder Aufmerksamkeit von Konkurrenten zu erregen? Oder weil die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit zusammenhängende, dialogische Kulturen zersplittert und also verhindert, falls sich diese über interstellare oder gar intergalaktische Imperien und somit Distanzen zu erstrecken begehren?
Der Sinn des Lebens
Über die wissenschaftlichen Aspekte hinaus kann man auch kosmische Sinnfragen stellen. Sandberg nennt vier Alternativen.
• Wenn der »Sinn des Lebens« darin besteht, dass lokal so viele glückliche Wesen wie möglich existieren, können Zivilisationen weit verbreitet sein und getrennt bleiben.
• Wenn der Sinn »nichtlokal« ist, dürften die Zivilisationen nicht fragmentieren und wären daher maximal auf Galaxien-Superhaufen beschränkt, weil die kosmische Expansion keinen größeren Zusammenhalt gewährt.
• Wenn der Sinn endlich ist – etwa das Erschaffen eines perfekten Kunstwerks oder das Spielen aller guten Schachpartien –, hätte man irgendwann vielleicht damit abgeschlossen und bräuchte keine weiteren Ressourcen mehr.
• Wenn der Sinn hingegen »bescheiden« in der Realisierung eines planetarischen Utopia liegt, könnte man das restliche Universum weitgehend ignorieren – obschon eine interstellare Kolonisation gut für die eigene langfristige Sicherheit sein mag, um nicht von fremden Zivilisationen überrollt zu werden.
Unter Umständen könnte sich die Ästivation-Hypothese sogar durch astronomische Beobachtungen erhärten lassen. Da es für eine Superzivilisation langfristig optimal wäre, so viel Energie – und damit Materie – zu nutzen wie möglich, würde es sich rechnen, einen Materialverlust zu verringern. Zu diesem gehört das Entweichen von Sternen und Gaswolken aus Galaxien oder Galaxienhaufen. Solche Prozesse sollten also verhindert werden. Wie sich das bewerkstelligen und von uns nachweisen ließe, ist freilich unklar. Würde man gravitativ gebundene Strukturen im All finden, die größer sind, als es vom kosmologischen Standardmodell vorausgesagt wird, wäre das in jedem Fall eine genauere Untersuchung wert.
Ein Universum voller Sterne: Was für die Entstehung von Leben und Intelligenz eventuell notwendig ist, kann langfristig ungünstig werden: starke Energieschleudern, die wertvolle Ressourcen verschwenden. Künftige Superzivilisationen halten sich deshalb vielleicht in weitaus unspektakuläreren kosmischen Regionen auf. – Das Foto zeigt NGC 2264, den Konus-Nebel: eine staubige Dunkelwolke im Sternbild Einhorn, 2700 Lichtjahre entfernt. Die glühenden Wasserstoffwolken daneben werden von jungen Sternen zum Leuchten angeregt, zuweilen Weihnachtsbaum-Sternhaufen genannt. Die Aufnahme stammt vom Wide Field Imager, einem Detektor mit 67 Millionen Pixeln am MPG/ESO-2,2-Meter-Teleskop der Europäischen Südsternwarte auf dem Berg La Silla in Chile. [ESO]
Doch womöglich ist ein weiter Blick hinaus gar nicht nötig. Die Superzivilisation der Great Old Ones könnte sich längst im Sonnensystem festgesetzt haben und hier beispielsweise in Form von winzigen Nanorobotern den abklingenden »Sommer« des Universums überschlafen. Es ist fraglich, ob wir solche Miniaturmaschinen jemals aufspüren – obwohl sie sich vielleicht bereits unter unseren Füßen befinden.
»Wir leben unsere Leben auf einer kleinen Insel der Blindheit, ohne die Vorstellung der dunklen Ozeane der Unendlichkeit um uns herum. Wir sollten uns nicht zu viel umsehen.«
– H. P. Lovecraft
Irdische Lektüren über außerirdische Spekulationen
Bennett, C. H., Hanson, R., Riedel, C. J.: Comment on »The Aestivation Hypothesis for Resolving Fermi's Paradox«. Foundations of Physics, Bd. 49, Nr. 8, S. 820–829 (2019); arXiv:1902.06730
Ćirković, M. M., Bradbury, R. J.: Galactic Gradients, Postbiological Evolution and the Apparent Failure of SETI. New Astronomy, Bd. 11, Nr. 8, S. 628–639 (2006).
Ćirković, M. M.: The Great Silence. The Science and Philosophy of Fermi's Paradox. Oxford University Press: Oxford 2018.
Sandberg, A., Armstrong, S., Ćirković, M. M.: That Is Not Dead Which Can Eternal Lie: The Aestivation Hypothesis for Resolving Fermi's Paradox. Journal of the British Interplanetary Society, Bd. 69, S. 406–415 (2016); arXiv:1705.03394
Sandberg, A., Ćirković, M. M.: The Aestivation hypothesis: popular outline and FAQ; https://aleph.se/andart2/space/the-aestivation-hypothesis-popular-outline-and-faq/
Vaas, R.: Superzivilisationen im Universum. bild der wissenschaft, Nr. 7, S. 8–15 (2018).
Vaas, R.: Kosmische Sommerruhe. bild der wissenschaft, Nr. 7, S. 16–20 (2018).
Hinweis:
Das PERRY RHODAN-Journal erscheint in der Regel alle acht Wochen als Beilage zur PERRY RHODAN-Serie in der 1. Auflage.
Anschrift: PRJ-Redaktion, Klaus Bollhöfener, Pabel-Moewig Verlag KG, Postfach 2352, 76413 Rastatt.
E-Mail: [email protected]
Die im PERRY RHODAN-Journal vertretenen Auffassungen und Meinungen entsprechen nicht grundsätzlich denen der Redaktion. Bei allen Beiträgen und Zuschriften behält sich die Redaktion das Recht auf Bearbeitung und Kürzung vor. Mit der Manuskriptzusendung versichert der Autor, dass es sich um eine Erstveröffentlichung handelt. Manuskripte werden in der Regel nicht zurückgeschickt. Für unverlangte Einsendungen wird keine Gewähr übernommen.
Datenschutzhinweis: Die von Ihnen uns gegenüber gemachten Angaben werden von uns nur zur Beantwortung Ihrer Frage verarbeitet und genutzt. Eine darüber hinaus gehende Weitergabe der Daten an Dritte oder eine Nutzung der Daten zu Marketingzwecken erfolgt nicht.
Liebe PERRY RHODAN-Freunde,
Christian