Im Wesentlichen gibt es drei Klassen von Antworten auf Fermis Frage: Entweder ist die Menschheit bislang die einzige intelligente technische Zivilisation in der Galaxis. Oder es ist unmöglich, unpraktisch oder noch zu früh für interstellare Imperien. Oder Außerirdische sind bereits weit verbreitet, vielleicht sogar hier, halten sich jedoch aus welchen Gründen auch immer verborgen. Die Ästivation-Hypothese gehört zu dieser dritten, extravagantesten Klasse.
»Während sie im Zustand der Ästivation sind, ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie entdeckt werden, extrem gering, obwohl sie wohl Sensoren und Automatismen zur Selbstverteidigung aktiviert halten. Daher gäbe es kein Fermi-Paradoxon«, sagt Milan M. Ćirković. Er bezeichnet diese sommerruhenden Wesen nach den schlafenden Aliens im literarischen Lovecraft-Universum auch als Great Old Ones. »Diese Hypothese basiert allerdings sehr stark darauf, dass solche Great Old Ones über eine uns unbekannte, beinahe mirakulöse Technologie verfügen.«
Weil die Old Ones sich in ihrer Sommerruhe extrem still und sparsam verhielten, gäbe es kaum Signaturen von ihnen. Daher könnten wir sie auch nicht aufspüren, was Fermis Frage beantworten würde. Freilich sind Zweifel angebracht: Wie kann eine komplexe Zivilisation über lange Zeiträume fortbestehen? Was ist, wenn andere, womöglich aggressive und nach Ressourcen gierende Zivilisationen kämen? Müssten solche potenziellen künftigen Konkurrenten vernichtet werden? Oder würden die Great Old Ones sie informieren, womöglich überzeugen und integrieren?
Sechs spekulative Annahmen
Die Ästivation-Hypothese mag weit hergeholt erscheinen und ist sicherlich spekulativ. Doch Sandberg und seine Kollegen haben sie so weit ausformuliert, dass sich ihre Voraussetzungen klar benennen und somit auch kritisieren lassen.
Die Hypothese beruht im Wesentlichen auf sechs Prämissen:
• Es gibt Zivilisationen, die sich viel früher als die Menschheit entwickelt haben. Eine Jahrmilliarde Vorsprung würde genügen. Ist technische Intelligenz hingegen erst in unserer kosmischen Epoche entstanden, weil beispielsweise erst jetzt die verheerenden Gammablitze im Universum selten wurden, wäre die Ästivation-Hypothese keine Lösung des Fermi-Paradoxons.
• Eine Superzivilisation kontrolliert große Gebiete des Universums. Dazu genügt eine sich selbstvermehrende Technologie mithilfe lokaler Ressourcen. Es ist auch eine nichtexpansive Ästivation denkbar, beispielsweise in begrenzten Städten von Superintelligenzen, doch das wäre keine Lösung des Fermi-Paradoxons.
• Es existiert mindestens eine Superzivilisation in Sommerruhe.
• Die Superzivilisation hat das Koordinationsproblem gelöst und handelt einheitlich – vor allem hinsichtlich des Beginns der Ressourcennutzung. Vielleicht ist sie eine kollektive Intelligenz ohne individuelle Differenzen.
• Eine Superzivilisation kann ihr Gebiet gegenüber anderen Zivilisationen bewahren, falls es solche in der Nähe gibt. Oder die Zivilisationen verschmelzen oder koexistieren friedlich, weil sich eine aggressive Konkurrenz nicht lohnt. Ansonsten wäre die Ästivation-Hypothese widerlegt.
• Ästivation ist weitgehend unbeobachtbar. Andernfalls wäre das Fermi-Paradoxon nicht gelöst. Dabei ist es allerdings nicht nötig, dass die Superzivilisationen sich absichtlich verstecken – ihr gegenwärtig äußerst geringer Energieverbrauch genügt schon, damit sie nicht auffallen.
Anders Sandberg sieht seine eigene Hypothese durchaus kritisch: »Ich persönlich denke nicht, dass die Aliens in Sommerruhe sind, sondern vermute, dass sie entweder gar nicht existieren oder nur sehr weit entfernt. Solange es aber unklar ist, wie häufig Intelligenz im Universum vorkommt, sollten wir alle Möglichkeiten erwägen.« Außerdem zeigt die Ästivation-Hypothese, wie groß das Potenzial der Zukunft ist.
Kritische Kommentare
Die Ästivation-Hypothese ist nicht nur hochspekulativ, sie ist auch keineswegs so zwingend, wie es ihren Erfindern zunächst erschien. Ein Artikel in der Fachzeitschrift Foundations of Physics hat inzwischen harte Kritik geübt. Diese stammt von Charles H. Bennett vom IBM Watson Research Center, Yorktown Heights, New York – einem Pionier der Theoretischen Informatik und früheren Kollegen Rolf Landauers – sowie von Robin Hanson und C. Jess Riedel, die an der George Mason University, Fairfax, Virginia, beziehungsweise am Perimeter Institute für Theoretische Physik im kanadischen Waterloo, Ontario, forschen. Ihr Haupteinwand: Es gibt keinen Vorteil des langen Abwartens, weil die Summe der Rechenressourcen im Weltall nicht allein von der Kosmischen Hintergrundstrahlung abhängt. »Unser Universum heute enthält riesige Reservoirs im Zustand nichtmaximaler Entropie, worin die von Computern erzeugte Entropie übertragen werden kann. Dies kann jederzeit getan werden«, betonen die Wissenschaftler. »Daher müssen die Aliens nicht warten, um aktiv zu werden.«
Die Löschung eines fehlerhaften Bits kostet immer dasselbe an Entropie, egal wie die Temperatur des Weltraums ist. Wohin die Entropie abgegeben wird, ist dabei sekundär. Es sei ein Denkfehler, anzunehmen, dass sie nirgendwo anders transferiert werden kann als in die Hintergrundstrahlung. Das wäre nur zwingend der Fall, wenn es keine Zwischenstationen gäbe, die noch nicht im thermischen Entropie-Maximum sind, so die Kritiker. »Doch das reale Universum ist voll von Teilsystemen, die nicht im Gleichgewicht miteinander sind und daher zusätzliche Entropie aufnehmen können.«
Insofern ist keine ständige direkte Wärmeabgabe an die Kosmische Hintergrundstrahlung nötig. Und das geschieht ja auch gegenwärtig auf der Erde nicht bei allen mit physikalischer Arbeit verbundenen Vorgängen. Die Reservoire der Teilsysteme sind nur im Zustand maximaler Entropie thermalisiert – also im Gleichgewicht mit der Umgebung; bis sie dieses Gleichgewicht erreicht haben, können sie Entropie aufnehmen, wie sie bei Rechenvorgängen abgegeben wird. Das haben Bennett und seine Kollegen in ihrem Artikel auch mit einem konkreten physikalischen Modell verdeutlicht.
Rekordrechner: Moderne Supercomputer sind noch immer monströse Maschinen, die eine ganze Halle füllen und viel Energie benötigen. Das ist sehr langfristig betrachtet ein zivilisatorischer Überlebensnachteil, weil Effizienz und Miniaturisierung alternativlos werden. Das Foto zeigt den momentan schnellsten Rechner der Welt, einen Summit (OLCF-4) von IBM mit über 500 Quadratmeter Grundfläche am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, USA. Er hat eine Spitzenleistung von 122,3 PetaFLOPS (Gleitkommaoperationen pro Sekunde) und besteht aus einer Hybridarchitektur mit POWER9-Hauptprozessoren (3,1 Gigahertz Taktfrequenz) und Rechenbeschleunigern vom Typ Nvidia-Volta GV100 GPU (Grafikprozessoren). Für spezielle Aufgaben kann Summit sogar 3,3 Trillionen Rechenoperationen pro Sekunde (ExaFLOPS) ausführen. Der gesamte Arbeitsspeicher hat 10 Petabyte plus 1600 Gigabyte pro GPU. Summit benötigt 15 Megawatt – fast doppelt so viel wie ein Hochgeschwindigkeitszug vom Typ ICE 3. [IBM, OLCF]
Ihr Resümee: »Es gibt im heutigen Universum also keinen Anreiz, um irreversible Operationen zu verzögern, bis eine Zivilisation alle zugängliche Materie kontrollieren kann und diese vollständig thermalisiert ist, das heißt einen nichtgravitativen Wärmetod erlitten hat.«
Falls das wachsende Volumen und somit die Abnahme des Drucks und der Teilchendichte des Universums eine Rolle spielt oder das Photon eine winzige Ruhemasse hätte (experimentell nicht ausgeschlossen sind Werte von maximal 10-18 Elektronenvolt), könnte die Argumentation fehlgehen. Aber dafür gibt es bislang keinen Grund. Die Rechengrenzen könnten auch von der Isolation der Reservoirs oder der endlichen Größe der Atome abhängen. Doch dies ist unklar und wurde nicht weiter berücksichtigt.
Ultimativ ist die Kosmische Hintergrundstrahlung freilich das letzte und globale Reservoir. Erst wenn alles mit ihr im thermodynamischen Gleichgewicht steht, hat das Universum seinen Wärmetod erreicht. Dann kann keine Arbeit mehr verrichtet werden, und eine Löschung oder Zusammenführung von Informationen ist physikalisch nicht mehr möglich.
Bis dahin ist aber noch sehr viel Zeit. So setzt ja auch der Protonenzerfall erst sehr viel später ein, als die Hintergrundstrahlung ihre Minimaltemperatur von etwa 2,7 · 10-30 Kelvin erreicht – was im Rahmen des gegenwärtig favorisierten kosmologischen Standardmodells schon