Spuk im Hochhaus. Eva Rechlin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Rechlin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711754344
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gegangen war und niemand ihn auffällig angeglotzt oder gar angesprochen hatte, da beruhigte er sich langsam. Und er machte sich keine Sorgen mehr, wenn sein Blick zufällig auf eine helle Stelle an der Wand fiel, die verriet, daß hier einst geradezu blödsinnig viele Spiegel gehangen hatten. Der alte Bruno-Kuno brauchte nur einen einzigen zum Rasieren, und der hing im Badezimmer.

      Bis Ende Februar endlich fühlte er sich einsam und in Frieden gelassen genug, um damit zu beginnen, sein erstes wissenschaftliches Buch zu schreiben. Um den Aberglauben zu erforschen, war er ja jahrelang soviel gereist. Er fand, daß Aberglauben aller Art ein ebenso lächerliches wie trauriges Kapitel in der Menschheitsgeschichte war, und das wollte er mit seinen geplanten Schriften beweisen. Sein erstes Buch sollte heißen: »Über die Dummheit, an Dämonen, Gespenster, Zauberwesen und ähnliche Ausgeburten von Phantasie und Träumen zu glauben.«

      Ein hoher Stapel Papierbogen lag auf dem prachtvollen Schreibtisch bereit. Der Professor stellte seine flache, altgediente Reiseschreibmaschine daneben, setzte sich davor auf den höhenverstellbaren Rollsessel, spannte den ersten Papierbogen in die Maschine und tippte mit spitzen Fingern den langen Buchtitel auf das Blatt. Als nächstes tippte der Professor ganz oben auf einen zweiten, noch völlig leeren Briefbogen: »Erstes Kapitel …« Er lehnte sich zurück. Jetzt mußte also ein Anfang gefunden werden, ein erster Satz, ein zündender Satz … In diesem entscheidenden Augenblick hörte Bruno-Kuno Happenduckdickdanzer zum erstenmal in seiner einsamen, stillen Wohnung einen Laut, der nicht von ihm stammte. Der Laut drang unüberhörbar aus einem der übrigen, jetzt im Dunkel liegenden Räume, denn es war Abend. Da seufzte jemand. Kein Zweifel. Aufgeregt und regungslos saß der Professor an seinem Schreibtisch und lauschte. Und wieder seufzte es – von woher? Nord? Ost? Süd? West? Nein, das kam nicht von draußen. Und noch einmal ein erkältetes, tiefes, schnarchendes, dumpfes Seufzen, wie aus einem hohlen Körper. Der Professor gewann seine Fassung zurück. Was konnte das schon sein? Ein Einbrecher, dem bei seiner halsbrecherischen Tour bis ins sechsundzwanzigste Stockwerk etwas zugestoßen sein mußte, der um Hilfe rufen wollte und nicht mehr konnte. Etwas anderes fiel einem wie dem alten Bruno-Kuno jedenfalls nicht ein. Ruhig stand er auf, gelangte, auf Zehenspitzen hüpfend, kaum hörbar an die Tür zum Wohnzimmer, riß sie auf und schaltete zugleich die große Deckenleuchte an. Seine Blicke flitzten über die Möbelstücke, von Fenster zu Fenster – nichts. Da hörte er es wieder, noch schmerzlicher und gräßlicher als vorher, ein Seufzen, das ihm durch Mark und Bein ging. Hatte sich der Gangster etwa im Schlafzimmer auf sein Bett geschleppt, um es mit seinem schurkischen Blut zu besudeln? Ein Angsthase war Bruno-Kuno Happenduckdickdanzer gewiß nicht. Noch immer unbewaffnet gelangte er mit drei, vier Sätzen an seine Schlafzimmertür, riß sie auf, schaltete das grelle Deckenlicht ein und schleuderte seine Blicke rundum und wieder zurück. Auch hier nichts Auffälliges. Sein Bett sah unberührt und makellos aus, wie er es vormittags selbst nach der Lüftung frisch hergerichtet hatte. Als eingefleischter Junggeselle beherrschte er sämtliche Hausarbeiten. Er knipste das Licht wieder aus und wollte durch das Wohnzimmer zurück in seinen Arbeitsraum gehen, da hörte er das Seufzen zum fünftenmal, laut, nah, leidend und nervtötend. Herr Bruno-Kuno nahm jetzt keine Rücksicht mehr. Er stürmte in seine Küche. Nichts. Er sprang durch die Diele ins Bad, ins WC und schließlich in den noch ungenutzten Raum. Dort hatte sich inzwischen etwas Gerümpel angesammelt, leere Schachteln und Kisten, die Terrassenmöbel, die Spiritons ihm zurückgelassen und die er hier zum Überwintern untergestellt hatte. Weder dort noch hier das geringste Anzeichen von einem Lebewesen. Sämtliche Fenster und Türen nach draußen auf die Dachterrasse und zum Liftflur fand er fest verschlossen vor. Kopfschüttelnd wanderte der Professor durch seine Wohnung, sinnend nahm er wieder einmal die hellen Flecken an den Wänden wahr. Spiegel hatten da gehangen. Der Professor schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirne und lachte laut auf. Er zuckte zusammen vor seinem eigenen, einsamen Gelächter. Seit er hier wohnte, hatte er in diesen Räumen noch nie eine menschliche Stimme gehört. Er führte ja keine Selbstgespräche. Sein eigenes Lachen klang schauriger als vorhin das entsetzliche Seufzen. Weshalb lachte er eigentlich?

      Ach ja, die Spiegel der Spiritons waren ihm wieder eingefallen. Er als Erforscher von Aberglauben wußte selbstverständlich, was es bedeuten konnte, wenn Menschen sich wie zwanghaft zwischen zahllosen Spiegeln verschanzten. Spiegel galten bei abergläubischen Menschen als Abwehrzauber gegen Dämonen, Hexen, Gespenster und dergleichen Unfug. Die armen alten Spiritons mußten abergläubisch gewesen sein?

      Offenbar kamen in dieser reizenden Wohnung seltsame Geräusche vor, wie etwa vorhin das Seufzen. Vielleicht zog es bei bestimmten Wetterlagen aus unerfindlichen Gründen durch eine Fenster- oder Wandverstrebung, durch eine Türritze oder irgendwelche Leitungen oder Schächte. Auch Vögel konnten sich hier oben einfinden, Möwen vom nahen Fluß, warum nicht gar eine Eule? Spiritons jedoch, als abergläubische Hinterwäldler vom Lande, hatten an Spuk geglaubt. Und darum hatten sie sich mit Spiegeln als Abwehrzauber umgeben. Kindische alte Leutchen.

      Der Professor mußte schmunzeln. Laut zu lachen, wagte er kein zweites Mal. Er knipste sämtliche Lichter in den verschiedenen Räumen aus und kehrte zurück in sein Arbeitszimmer, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, warf einen Blick auf das in die Schreibmaschine gespannte Blatt Papier, auf das er vorhin getippt hatte: »Erstes kapitel …« – und was er jetzt dort sah, erschien ihm so sauber hingetippt, daß im ersten Moment seine Reflexe nicht mehr richtig funktionierten. Lediglich ungläubig beugte er sich vor und las halblaut vor sich hin, was dort, wie von Geisterhand als erster Satz geschrieben stand: »Wer nicht mag unter Menschen hausen, dem sollte es vor Geistern grausen!«

      Der Professor schnellte von seinem Stuhl hoch, als hätte er sich nackt auf einen Wespenschwarm gesetzt. Beide Hände streckte er vor, mit gespreizten, zitternden Fingern. Seine Augen, weit aufgerissen, konnten sich nicht von dem Papier in der Schreibmaschine lösen. Ihn durchschüttelte etwas, das er bisher nicht gekannt hatte: Entsetzen. Er entfernte sich rückwärtsgehend von seinem riesigen, prachtvollen Schreibtisch, auf dem etwas geschehen war, was Bruno-Kuno Happenduckdickdanzer nicht begreifen konnte. Zum erstenmal konnte er etwas nicht begreifen! Etwas Unglaubliches war geschehen, war ausgerechnet ihm zugestoßen, als einsame, unerklärliche Seufzer ihn von seiner Arbeit fortgelockt hatten.

      Fast brach der Professor vor Schreck in die Knie, als er beim schaudernden Rückwärtsgehen mit dem Rücken gegen die Zimmertür stieß. Seine Rettung! Mit flatternden Händen riß er sie auf, stolperte durch das Wohnzimmer in die Diele, dachte nur eins: Raus hier! Raus! Raus!

      Ein unvergeßlicher Abend

      In seinem wie besinnungslosen ersten Grauen war Professor Happenduckdickdanzer vom stilleren, dunklen Flußkai gleich mehrere Straßen weit geflüchtet, mit riesigen hastigen Schritten. Er blieb stehen und blickte sich um. Sein Atem ging stoßweise. Hier in der Stadtmitte war es auf den Straßen noch lebhaft. Rings um den Professor klangen die Stimmen und Schritte von vielen Menschen, und er schloß sekundenlang die Augen, um die Menschengeräusche zu hören, in sich dringen zu lassen, geradezu aufzusaugen. Konnte es wahr sein, daß sie ihn zum erstenmal nicht störten? Er öffnete die Augen sofort. Es durfte nicht wahr sein, er wollte es nicht wahrhaben! Und doch fühlte er sich endlich besser, wenn auch noch nicht normal und wie gewohnt. Sonst wäre er ja nicht ins nächstbeste Lokal gegangen. Niemals vorher hätte er eine solche Kneipe aufgesucht, in der nicht nur die Gäste vergnügt lärmten, sondern obendrein ein Musikautomat. Zu wilden Gitarrenzupfern sangen drei, vier Stimmen schrill: »Oh Hawai, oh Hawai-jollijolli hick hack hai!« Den letzten Satz gröhlten einige Gäste jedesmal mit. Der Professor bestellte sich ein Glas Bier. Der ungewohnte Langlauf hatte ihn durstig gemacht. Er leerte das Glas zügig und bestellte gleich noch eins. Seine Nerven beruhigten sich. Was war eigentlich geschehen? Er versuchte, sich zu erinnern. Die gräßlichen Seufzer aus den dunklen Räumen seiner Wohnung fielen ihm ein. Wirklich gräßlich kamen sie ihm erst jetzt vor, wenn er an die lautlos hingetippten Zeilen auf seinem Schreibbogen dachte. Er ahnte, daß es einen Zusammenhang zwischen den Seufzern und dem Schreiber geben mußte. Aber welchen?

      Also das Volk hier ging ihm auf die Nerven. Unter so vielen lärmenden Menschen konnte er nicht denken. Das zweite Glas Bier leerte er nur halb, zahlte und verließ das Lokal. Draußen atmete er tief ein und dachte selbstzufrieden: Wie richtig handle ich doch, wenn ich die Menschen meide! Sie lärmen und verbreiten warmen Mief um sich