»Und nun komme zurück hier in den Raum, sei präsent und wach.« Ich öffne die Augen. Ella verneigt sich. Und wir verneigen uns vor ihr.
»Ich, wir begrüßen dich als Frau und das sinnliche Wesen in dir. Wir heißen die Göttin in dir willkommen.«
Ich bewundere ihre Gelassenheit, mit der sie diese tiefen Gefühle aussprechen kann. Sie ist eine Göttin für mich.
Eine Brünette mit Sommersprossen klatscht zögernd. Eine ganz in schwarz gekleidete Frau sagt: »Wundervoll, danke.« Auch sie klatscht, andere stimmen ein, und schließlich füllt donnernder Applaus den Veranstaltungsraum.
Ella grinst. »Eins ist klar: Erotik ist etwas Erlerntes. Wir haben gelernt, was sexy ist und was angeblich nicht. Wir haben gelernt, Schwächen zu verstecken und unser Begehren beiseitezuschieben. Machen wir es heute besser. Frauen, bitte zu den Tischen. Heute fehlen uns nicht die Worte, wie das meistens beim Thema Sex der Fall ist.«
Wir zählen durch, von eins bis drei, und schnell haben sich die Gruppen gefunden.
Als wir im Vorfeld darüber gesprochen hatten, wer welchen Tisch betreuen könnte, schlug Gil vor, dass ich die Gruppe mit den Fantasien leiten könnte.
»Über meine Fantasien werde ich schweigen. Ich gehe das Risiko nicht ein, von den Frauen missverstanden zu werde.«
»Ich dachte, du wärst weiter.«
»Wir wissen doch gar nicht, wer kommt. Nachher erklärt mir eine Feministin, dass ich ein Verhaltensmuster hätte, das aus den Fünfzigern stamme, als Frauen noch von Männer überwältigt werden wollten, um ihre eigene Scham zu umgehen oder damit sie nicht als Schlampen galten. Dass dies nicht auf mich zutrifft, weiß ich. Dank deiner Hilfe, Gil, konnte ich schon so viel in mir erforschen. Praktisch und theoretisch.« Ich denke an die theatralischen sexuellen Inszenierungen, die sie für mich aufgrund unserer Gespräche arrangierte und die mich erfahren ließen, wie lustvoll es ist, eigene Fantasien in geschütztem Umfeld auszuleben. Diese Erfahrung brachte viel Licht an diesen geheimen Ort in mir, den ich über all die Jahre fest verschlossen hatte. »Trotzdem bin ich noch nicht so weit, um einer Diskussion im Roten Mond Salon standzuhalten.«
»Obwohl gerade hier der Ort für Vertrauen ist. Hier könntest du üben, dich nicht mehr zu schämen. Darum geht es ja – jedes Begehren zuzulassen«, ermunterte mich Gil.
»Wenn es irgendwann einmal so weit ist, wäre das großartig.«
»Dann übernimm den Tisch über das weibliche Geschlecht. Da hast du gerade einen großen Schritt gemacht, was die eigene Wertschätzung angeht.«
Das stimmt, doch ich zögerte. »Und wenn ich es nicht schaffe?«
»Probiere es aus. Wenn du die Situation nicht mehr bewältigen kannst, was, glaube ich, nicht passieren wird, sind Ella, Sophia und ich da und unterstützen dich.«
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, keine Rücksicht mehr auf meine Ängste zu nehmen.
»Okay, ich versuche es«, willigte ich ein.
Und so stehe ich kurz darauf mit sechs Frauen am World-Café-Tisch. »Mein Name ist Viktoria. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Zurzeit recherchiere ich zur Geschichte der Vulva fürs neue Theaterstück im Liliths. Da bin ich auf interessante und beglückende Informationen gestoßen, die ich mit euch teilen will.« Ich liebe es, wenn Dinge sich ergänzen, zusammenfügen und Neues daraus entsteht. Und plötzlich spüre ich, dass ich den Frauen, die mich erwartungsvoll anschauen, wirklich von diesen Ergebnissen erzählen möchte.
»Der Teufel soll beim Anblick der Vulva das Fürchten gelernt haben. Doch nicht weil die Vulva so hässlich ist – nein –, das will man uns nur weismachen, sondern weil sie so mächtig ist, dass sogar der Teufel vor ihr erschrickt.«
Ich merke, dass ich etwas Persönliches berichten muss, wenn ich dasselbe von den Frauen erwarte. Davor fürchte ich mich. Ich spüre Adrenalin durch meine Adern rauschen. »Es ist wichtig für mich, in dieser Gruppe zu sein, weil ich es nie seltsam gefunden habe, einen Schwanz zu bewundern und ihn in den Mund zu nehmen.« Ich schaue auf meine Hände. »Es jedoch als peinlich empfunden habe, wenn jemand zu meinem Geschlecht gesagt hat, dass es schön sei. Wenn ein Mann mich da unten …« Ich muss lachen und als ich aufsehe, blicke ich in grinsende Gesichter. »O nein – jetzt habe ich das schreckliche Unwort ›da unten‹ tatsächlich selbst gesagt, lecken wollte, fühlte ich mich extrem unwohl und dachte sofort darüber nach, ob ich gut rieche. Ein Mann sagt einfach, fass meinen Schwanz an oder meine Hoden. Ich kannte den korrekten Ausdruck für mein Geschlecht gar nicht. Wie sollte ich da sagen, was ich möchte? Ich muss gestehen, dass ich lange nicht wusste, dass der sichtbare Bereich Vulva heißt und nur der innere Teil Vagina. So, nun ist es raus. Ich bin auf dem Weg, mein Geschlecht mehr zu genießen. Hier zu sein und euch zuzuhören, wird mich weiter stärken. Stellt euch doch bitte kurz vor. Gerne mit einem Satz, warum ihr hier seid.«
Die Frau mit den Vulva-Ohrringen sagt: »Ich bin Pia, bin zweiundzwanzig Jahre alt, und mich interessiert einfach alles, was mit Sex zu tun hat. Ich studiere Kunst und war schockiert, als mir klar wurde, dass es ein Darstellungsverbot des weiblichen Lustorgans gab. Bestimmt bis ins 20. Jahrhundert hinein. Meine Antwort darauf könnt ihr hier bewundern.«
Sie zeigt auf ihr Ohrgehänge. »Ich fertige auch Vulva- Anhänger und andere Schmuckstücke.«
»Ich heiße Franziska und werde bald dreißig. Ich habe mich nie nackt gezeigt, auch vor Frauen nicht. Und ich habe mich gefragt: Warum eigentlich nicht? Ich kam darauf: Vieles an mir finde ich hässlich, weil ich nicht dem entspreche, was ich jeden Tag sehe. Ihr wisst schon, in Zeitschriften und so oder auf Instagram. Ja, leider.«
Ich atme tief durch, um den Impuls zu vertreiben, ihr zu sagen, dass ich sie hübsch finde. Stattdessen lächle ich freundlich und sage: »Danke.«
»Ich heiße Lotta. Muss ich mein Alter verraten?«, sagt die Frau mit den Sommersprossen, die als Erstes spontan geklatscht hat.
Ich schüttle den Kopf. »Sag einfach das, mit dem du dich wohl fühlst.«
»Ich habe kein Wort dafür. Wann sollte ich es benutzen? Ich spreche nicht so oft über mein Geschlechtsteil. Ich hoffe einfach, dass der Mann alles richtig macht und sich auskennt.« Mit einem tiefen Seufzer blickt sie zur Decke.
»Mein Name ist Heike, ich bin sehr religiös erzogen worden, was gleichzeitig bedeutet, dass ich lustfeindlich erzogen wurde. Davon habe ich mich mühevoll befreit, und nun möchte ich einfach schauen, was die Lust für mich bereithält. Vulva gefällt mir gut.« Als die anderen lachen, lacht sie mit. »Ich meine das Wort. Klingt rund und warm, hat Tiefe, das spüre ich. Ist nicht so verniedlichend wie Muschi.«
Die Nächste in unserem Kreis ist Esther. »Ich denke auch immer sofort an Probleme, die Frauen haben. Nachts nicht allein durch dunkle Straßen gehen und wenn dann nur mit Telefon-Sicherheitscheck. Nicht mit einem mitgehen, den man gerade erst kennengelernt hat, wenn doch, dann ohne betrunken zu sein. Keinem verraten, mit wie vielen Männern du schon geschlafen hast, außer es bewegt sich zwischen zwei und fünf. Ich könnte endlos weitere Punkte aufzählen. Es macht mich so wütend, dass alle nur an deinen Körper ran wollen, notfalls mit Gewalt. Damit wir Frauen nicht merken, wie bedürftig die Männer sind und wie neidisch auf unsere Macht, die mit unserer Gebärfähigkeit verbunden ist, werten sie alles Weibliche ab. Das ist ihr Trick. Damit sind sie jahrhundertelang durchgekommen.«
»Vielen, vielen Dank.« Ich bin berührt von der Offenheit aller. »Gut. Dann schauen wir mal, was uns so einfällt.«
»Ich will auch noch was sagen!«
»Oh, Verzeihung!« Ist mir das peinlich. Ich habe eine Frau übergangen. Eine in einem engen schwarzen Businesskostüm, die Haare straff nach hinten gebunden. Die randlose Brille mit rechteckigen Gläsern unterstreicht ihr strenges Outfit.
»Macht