Hörigkeit des Herzens. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718902
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      »Ich finde, das ist nicht wenig. Die meisten Menschen sind ja bloße Schwätzer. Wenn es darauf ankommt, versagen sie alle.«

      Wollte er so seine Anerkennung dafür ausdrücken, daß sie die Schuld an der Unfallflucht auf sich genommen hatte? Sie meinte, daß sie einen herzlicheren Dank verdient hätte. »Für einen Dichter«, sagte sie, öffnete ihren Koffer noch einmal, legte die beschriebenen Blätter obenauf, »bist du verdammt wortkarg.«

      »Gerade weil ich ein Dichter bin, hasse ich pompöses Gerede. Wer beruflich mit Worten jongliert, weiß, wie wohlfeil sie sind. Zwischen dir und mir bedarf es doch keiner großen Worte.«

      Sie ließ das Schloß des Koffers zuschnappen und richtete sich auf. »Bist du sicher?«

      »Ganz und gar.« Er legte den Arm um ihre Schultern und schob sie zur Tür. »Wann, meinst du, kannst du fertig sein?«

      »Wenn ich mich dranhalte – bis morgen nachmittag.«

      »Ich erwarte dich dann.«

      Er entließ sie ohne Kuß. Fabian küßte nie. Er empfand, wie er behauptete, diese »Schleckerei« als unhygienisch.

      3

      Wie immer war die U-Bahn auch an diesem Samstag im September überfüllt. Eva fand keinen Sitzplatz; sie wurde hin- und hergestoßen und hielt ihr Köfferchen krampfhaft fest, aus Angst, daß es ihr entrissen werden könnte. Die paar Kleidungsstücke, die es enthielt, wären zwar kein herber Verlust gewesen, aber Fabians handgeschriebene Seiten waren unersetzlich. Das hatte er ihr oft genug klargemacht, und sie war davon überzeugt. Mittlerweile bereute sie es, daß sie sich nicht von ihm hatte chauffieren lassen, nur weil sie ihm die Unbequemlichkeit ersparen wollte.

      Sie war froh, als der Zug den Bahnhof Uhlandstraße erreicht hatte und sie die düstere, schmutzige Unterwelt verlassen und in das milde Herbstlicht emporsteigen konnte.

      Auch auf dem Kurfürstendamm wimmelte es von Menschen, die sich gegenseitig schoben und stießen. Vor der runden Fensterfront des Cafés Kempinski spielte ein junger Mann mit mädchenhaft langen Locken auf seiner Geige eine Melodie. Das Instrument war so verstimmt, daß man nicht erkennen konnte, ob sie heiter oder traurig war. Den Leuten gefiel es anscheinend trotzdem, denn sie warfen großzügig Münzen in den offenen Zylinderhut, den der Junge vor sich auf das Pflaster gestellt hatte. Auch Eva hätte ihm gerne etwas gegeben, aber es war ihr mehr daran gelegen, ihren Koffer sicher nach Hause zu bringen.

      Sie bog in die Fasanenstraße ein, und hier, erst wenige Schritte vom Ku’damm entfernt, umfing sie Stille. Zwar waren Passanten unterwegs, aber nur einzeln oder zu zweien, es gab keine Menschentrauben und kein Gedränge. Vor der Synagoge standen einige alte Männer, in ein ruhiges, ernsthaftes Gespräch vertieft.

      Zwei Blöcke weiter, und dann hatte Eva das Haus erreicht, in dessen viertem Stock sie bei ihrer Tante wohnte. Es war ein altes Haus, noch aus der Zeit der Jahrhundertwende, im Krieg von Bomben beschädigt. Bei der Reparatur hatte man, wohl um es moderner erscheinen zu lassen, alle steinernen Simse und Säulchen radikal heruntergeklopft, so daß die Fassade jetzt kahl und nackt wirkte.

      Im Inneren führte eine Treppe um einen Lift herum, der in einem Käfig aus Messing hing, ganz nach oben. Die Buntscheiben über der Haustür waren schon seit langem durch mattes weißes Glas ersetzt worden, dennoch war es düster und kühl. Da der Lift die unangenehme Angewohnheit hatte, ohne jede Vorwarnung steckenzubleiben, benutzte Eva die Treppe. Behende lief sie die breiten, ausgetretenen Stufen aus dunklem Holz hinauf. Weil ihr Schlüssel noch in der Handtasche im Koffer steckte, klingelte sie dreimal kurz an der Wohnungstür.

      Katrin Silbert öffnete sofort. Sie war schlank, fast dünn, hatte sich das metallfarbene Haar – ehemals war es karottenrot gewesen wie Evas heute – streng aus der Stirn gebürstet und im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Ihre Augen waren grün und klar. Alles in allem hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Nichte, und Eva konnte sich manchmal vorstellen, daß sie selber in fünfzehn Jahren so aussehen würde wie Katrin jetzt. Aber vom Charakter und vom Temperament her waren sie beide grundverschieden. Wo Eva impulsiv, verletzlich, romantisch reagierte, blieb Katrin kühl, sachlich und vernünftig.

      Falls sie gekränkt oder verärgert darüber war, daß Eva erst so spät kam, ließ sie es sich doch nicht anmerken. Sie wehrte Evas gestammelte Entschuldigung beherrscht ab, obwohl sie sich offensichtlich schon allein in die Hausarbeit gestürzt hatte; sie trug einen weißen Baumwollkittel über ihrer grauen Flanellhose und hatte ein Staubtuch in der Hand.

      »Macht doch nichts«, erklärte sie, »ich habe damit gerechnet, daß es gestern lange gedauert hat. Wie ist es denn gelaufen?«

      »Fabian war wunderbar. Das habe ich dir ja schon nach den Proben erzählt. Aber gestern hat er sich selbst übertroffen.«

      Katrin warf ihr einen leicht befremdeten Blick zu, stellte aber keine weiteren Fragen. Eva war sich bewußt, daß ihre Begeisterung nicht ganz echt, sondern einigermaßen gezwungen geklungen hatte.

      Der Unfall auf der nächtlichen Heimfahrt und die Ereignisse, die ihm folgten, hatten alles andere in den Hintergrund gedrängt und ließen den Erfolg der Boulevardkomödie ziemlich unwichtig erscheinen.

      »Ich helfe dir gleich, Tante Katrin«, fuhr sie hastig fort, »ich brauche mich gar nicht erst umzuziehen.«

      »Du brauchst nichts zu überstürzen, Eva, wir haben ja Zeit für alles. Oder mußt du noch einmal fort?«

      »Natürlich nicht!«

      »Ich dachte, du würdest die Aufführung gern noch einmal sehen.«

      »Unbedingt. Aber nicht heute. Sie wird ja bestimmt noch Monate laufen.«

      »Hm«, machte Katrin nur.

      Sie waren inzwischen in die Diele getreten, einem großzügig geschnittenen vieleckigen Raum, von dem die Türen zu den drei Zimmern und der Gästetoilette abgingen. Das Bad und die Küche lagen nach hinten hinaus. Eva stellte den Koffer ab, zog ihren Mantel aus und hängte ihn über einen Bügel an der eingelassenen Garderobe. »Was meinst du damit?«

      »Ich habe nichts gesagt.«

      »Aber du hast sehr bedeutungsvoll ›hm‹ gemacht.«

      »Ich habe nur gedacht, es wird für deinen fantasievollen Freund sehr schwer werden, Abend für Abend denselben Text zu zitieren.«

      »Ach was. Das macht ihm bestimmt nichts aus. Er ist doch so glücklich, daß er die Rolle bekommen hat.«

      »Bitte, verzeih mir! Ich wollte wirklich nicht unken.«

      »Aber das tust du doch nie, Tante Katrin.«

      Katrin lächelte, und ihr Gesicht wurde weich. »Es tut mir sehr wohl, Eva, das aus deinem Mund zu hören. Manchmal habe ich wirklich selbst den Eindruck, ich hätte den Hang, alles zu vermiesen.«

      »Du bist nur ein bißchen skeptisch, Tante Katrin, und meistens hast du damit recht.«

      »Fahren wir später hinaus?«

      Eva zögerte, sie hätte Fabians Manuskript nur zu gern wenigstens durchgeschaut. Aber natürlich konnte sie das auch noch am Abend tun.

      »Keine Lust?« fragte Katrin sofort.

      »Doch, ja«, beeilte Eva sich zu versichern, »es ist sogar eine blendende Idee. Laß uns sehen, daß wir rasch mit der Wohnung fertig werden.«

      Alle Räume waren sehr hoch, mit schönen Stukkaturen an den Decken, Parkettböden und langen Fenstern. Aber nur daran merkte man, daß das Haus alt war. Die Rauhfasertapeten an den Wänden waren weiß gestrichen, Türen und Fensterrahmen abgeschliffen und frisch lakkiert, das schöne Parkett abgezogen und eingelassen. An den Wänden gab es wenige, bemerkenswerte Ölbilder, die Katrin im Lauf der Jahre erworben hatte. Die Möbel waren modern und praktisch, dazwischen eine Biedermeierkommode aus Mahagoni, die Katrin geerbt, ein Schränkchen aus Rosenholz, das sie auf einer Auktion ersteigert hatte. Alles wirkte hell, übersichtlich, frisch und heiter.

      Jede