Jule konnte während des ganzen Nachmittags ein Gefühl der Beschämung nicht loswerden. Die Fischerkinder, die sich später wieder einstellten, betrachteten Jule mit spöttischen Blicken. Besonders Herbert Affmann, der auch hinzugekommen war, um Pommerle zu begrüßen, sagte wegwerfend:
»Ich bin noch nicht mal Lehrling, und du bist schon einer, aber vor dem Wasser habe ich mich nie gefürchtet.«
Diese Reden veranlaßten Jule am anderen Morgen, energisch zu erklären, daß er mit Frau Stadler, Pommerle und zwei Fischern in einem Boot hinausfahren wolle, um zuzusehen, wie die Netze ausgelegt werden. Er hatte sich den großen Kahn bereits genau besehen und stellte fest, daß vielleicht doch die Möglichkeit bestehe, wieder heil an Land zurückzukommen. Freilich, der Gedanke, daß Pommerles Vater auch in solch einem großen Kahn ertrunken sei, daß er einfach umgeschlagen war, beunruhigte den Knaben recht sehr. Trotzdem kämpfte er tapfer die bange Stimmung nieder, die ihn überkam, als man einsteigen sollte.
»Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns mal die Naturdenkmäler auf der Insel besehen wollten, von denen gestern gesprochen wurde. Für Professor Bender ist es sicher interessanter, zu erfahren, wie der Hexenstein aussieht. Das Wasser kennt er doch genau, aber den Hexenstein kennt er nicht. – Wenn Sie erlauben, Frau Stadler, suche ich nach dem Hexenstein.«
»Ich denke, wir wollen mit den Fischern hinausfahren?«
»Gewiß, das wäre auch interessant, aber – der Hexenstein ist doch viel interessanter.«
Pommerle schmiegte sich an den Freund. Ganz leise flüsterte es ihm zu: »Jule, haste vielleicht wieder Angst vor dem Wasser?«
»Ach was«, sagte er und warf sich in die Brust, »ich habe überhaupt keine Angst. Aber Netze auslegen und die armen Fische fangen, man soll doch kein Tier quälen, man sollte die Fische lieber leben lassen.«
»Man quält sie doch nicht, Jule, man zieht sie 'raus, und schwupp, schon sind sie tot.«
»Und dann klopft man sie ganz breit. – Ich glaube, das ist 'ne schöne Quälerei, bis aus 'nem Hering eine Flunder wird.«
»Jule, stell' dich doch nicht gar so dumm! Und nu steig' rasch ein!«
»Ist das dort hinten nicht eine Sturmwolke? Ich glaube, wir bekommen bald ein Gewitter. Die Sabine meinte, das Wasser zieht das Gewitter an, und der Blitz schlägt gern in was Hohes. Wenn wir dann mit dem Kahn und dem hohen Segel mitten auf dem Meer sind, kommt der Blitz, und dann – krach, der Donner, der schmeißt den Kahn um, und wir müssen ertrinken. – Ich möchte halt gar gern den Hexenstein sehen.«
»Trödle nicht solange, Jule«, meinte Frau Stadler, »die Fischer warten.«
»Wenn aber der Herr Professor den Hexenstein gern sehen möchte!«
»Komm nun endlich, Jule!«
Er stieg in den Kahn, doch wagte er nicht niederzusitzen. Erst als ihn Pommerle auf die schmale Holzbank niederzog, nahm er zögernd darauf Platz. Als dann der Kahn vom Lande abstieß, als er in der Brandung heftig schwankte, wurden Jules Augen groß und starr, krampfhaft hielt er sich an der Bank fest.
»Haben Sie auch Rettungswesten mit?« fragte er leise einen der Fischer.
Doch nur ein Lachen wurde ihm zur Antwort.
Während der Fahrt hatte der Jule keinen Genuß. Pommerle hingegen interessierte sich für jeden Handgriff der Fischer. Auch Frau Stadler war das Auslegen der Netze etwas Neues. Jule hielt meistens die Augen fest geschlossen. Nur wenn das Boot einmal zu sehr schwankte, riß er erschrocken den Kopf hoch, und über seine blassen Lippen kam ein kurzes Stoßgebet: »Rübezahl, hilf uns!«
Je mehr man sich vom Ufer entfernte, um so unbehaglicher fühlte sich der arme Jule. Seine sonst so laute Stimme wurde immer leiser. Von Zeit zu Zeit wandte er sich an Pommerle: »Haben die Fischmörder noch nicht genug Beute?«
»Aber Jule, Fische schmecken dir doch so gut. Onkel Will tut den Fischen kein Leid an.«
»Ich glaube, ich erkälte mich auf dem Wasser, ich friere schon. Fühle mal meine Hände an, sie sind ganz kalt. Die Seeluft hat solch ungesunden Geruch, davon bekommt man Husten. Na, überhaupt – – ich wollte, ich wäre wieder in meinen Bergen.«
Während Pommerle am liebsten noch weiter in See hinausgefahren wäre, litt der Jule Höllenqualen. Nein, niemals wieder fuhr er mit an die Ostsee, auch dann nicht, wenn I. K. 37 985 noch so lockte und rief. Er wollte lieber auf die stolze Fahrt verzichten, ehe er erneut einen Kahn bestieg.
»Nun, Jule, ist dir das alles nicht ganz etwas Neues? Warum bist du denn gar so still?«
»Ich kann es nicht leiden, wenn man Fische tötet. Ich möchte zurück.«
Er war während der Fahrt recht unliebenswürdig, brummte schließlich unverständliche Worte vor sich hin, saß aber doch mäuschenstill, weil er längst bemerkt hatte, daß bei jedem Aufstehen das Boot schwankte.
Endlich ging es heimwärts! Jule starrte unverwandt aufs Ufer. Je näher man ihm kam, um so leichter wurde sein Herz. Als er dann wieder festes Land unter den Füßen hatte, machte sich sein Groll Luft.
»Wenn hier nichts anderes zu sehen ist als Wasser, komme ich nicht mehr mit! Und nicht mal den Stein sehe ich. Wie soll der Herr Professor Reden in Schweden halten, wenn ich ihm den Hexenstein nicht mal beschreiben kann? Und alles das nur, weil du zu den dummen Fischen willst. Nur deshalb muß ich mit. – Ich heirate dich nicht, ich heirate lieber die Sabine, die will nicht ans Wasser.«
Pommerle war tief betrübt, daß ihr lieber Jule gar nichts für die heißgeliebte See empfand. All seine Versuche, den Spielgefährten von der Schönheit seiner Heimat zu überzeugen, schlugen fehl.
»Ich wünschte«, sagte Pommerle, »daß all die Millionen Menschen, die auf der Erde leben, nach Neuendorf kommen könnten, um zu sehen, wie schön es hier ist.«
»Sollen sie kommen!« erwiderte Jule. »Ja, sie sollen ruhig kommen und sich an den Strand legen und den Leib voll Wasser trinken. Dann wird die See wenigstens leer, und man braucht sich nicht zu ängstigen.«
»Dann wünsche ich«, entgegnete das kleine Mädchen erregt, »daß alle Leute von deiner Schneekoppe Steine abbrechen. Dann ist sie auch bald weg. Wenn du gar so eklig bist, Jule, heirate ich einen Fischer.«
Zum ersten Male seit zwei Jahren hatten die beiden Kinder einen ernsten Streit zusammen. Auf dem Heimwege zum Hotel sprachen sie kein Wort zusammen, sie schauten sich nur verstohlen an. Pommerle tat das Herzchen weh, daß der Jule so häßlich war, und Jule grämte sich, daß Pommerle ihm zürnte.
Beim Abendessen schob Pommerle dem Jule eine Scheibe Wurst zu. Jule wurde krebsrot und schob sie wieder zurück. Das Essen wollte beiden nicht munden, bis schließlich Frau Stadler fragte, was das alles zu bedeuten habe. Die Kinder schwiegen, und als Frau Stadler energisch in sie drang, sagte Pommerle gedrückt:
»Ihm gefällt doch die liebe Ostsee nicht.«
»Dir gefällt auch mein Riesengebirge nicht!«
»Doch, aber die Ostsee ist viel schöner.«
»Und deswegen streitet ihr euch? Zwei gute Freunde schauen sich nicht mehr an, weil jeder sein Heimatland lobt?«
»Der Jule will die Ostsee austrinken lassen, daß sie wegkommt.«
»Macht nur wieder Frieden, Kinder. Denke doch daran, Jule, wie sehr du dich auf diese Reise gefreut hast. Warum willst du Pommerle absichtlich kränken? Ist es nicht richtig, daß Hannchen jenes Fleckchen Erde am meisten liebt, auf dem es geboren wurde? Geht es dir nicht ebenso, Jule? Das mußt du doch verstehen, mein Junge. Hier hat Pommerle seine ersten, schönen Kindheitserinnerungen,