Energisch packte Jule sein Pommerle am Arm. »Vom Wasser werden wir nicht satt. Ich habe mächtigen Hunger. Nu komm, sonst zankt die Tante. Zu mir hat deine Mutter auch gesagt, wir sollen folgen. Komm!«
Aber Pommerle warf erst noch einen langen Blick auf das Wasser.
»Du willst wohltätig sein?« grollte Jule. »Der Chauffeur hat den ganzen Tag an der Arbeit gesessen, hat gut aufpassen müssen an allen Ecken, der hat auch großen Hunger. Aber an den denkst du nicht. – Nu komm, der will doch auch essen, und ehe wir nicht essen, bekommt er auch nichts.«
Das leuchtete Pommerle ein. Wenn der Chauffeur so großen Hunger hatte, mußte man heimgehen. Aber dann, wenn der Mann abgefuttert war, ging es wieder hierher, an den Strand, damit man keine Minute von dem köstlichen Wiedersehen einzubüßen brauchte.
Kapitel 6.
Heimatzauber
Die Kunde, daß Hanna Ströde nach Neuendorf gekommen sei, verbreitete sich rasch durch den ganzen Ort. Man wußte sogar, daß das einstige Fischerkind in einem feinen Wagen zugereist sei und im Kurhaus wohne. Die Folge war, daß sich sofort einige der früheren Spielkameradinnen und auch einige Fischer aufmachten, um nachzuforschen, ob die kleine Hanna wirklich gekommen wäre. Bereits während des Mittagessens drängte sich ein blondlockiges Mädchen verlegen in den Speisesaal; es war Grete Bauer, Pommerles liebste Kameradin von der Ostsee.
Das Wiedersehen war stürmisch. Grete lief wieder hinaus, teilte es den draußen Wartenden mit, daß Hanna Ströde wirklich angekommen sei, und während Pommerle hastig das Mittagessen verschlang, warteten draußen zahlreiche Kinder, aber auch mehrere Erwachsene.
Pommerle wurde von allen stürmisch begrüßt. Fuhrmann Will hob die Kleine empor und schwenkte sie durch die Luft.
»Kennst du uns noch, Hanna?«
Pommerle kannte alle. Kaum ein Jahr war es her, daß es in Neuendorf geweilt hatte, und vor zwei Jahren war das große Unglück geschehen, da war ihm der Vater ertrunken.
»Spielst du noch mit uns?« fragte Elli Gotsch, die in ihrem zerflickten Kleidchen nicht gerade sauber aussah. »Du bist jetzt reich und fein geworden, Hanna, hast sogar einen schönen Wagen. Wir alle sind arm.«
Pommerle drückte Elli heftig an sich. »Ich habe euch alle, alle sehr lieb, und fein bin ich nicht, ich bin genau wie ihr. Mein Vati aus Hirschberg sagt, es ist alles einerlei, ob einer ein graues oder ein goldenes Kleid anhat. Nur wie der Mensch inwendig ist, darauf kommt es an. Und das hier ist der Jule aus Hirschberg, den heirate ich einmal. Ihr müßt auch sehr lieb zu ihm sein, denn er ist ein sehr guter Junge. Jetzt ist er noch ein Lehrling, aber bald ist er ein Meister, und dann hat er eine große Tischlerei, weil er immer sehr fleißig ist.«
Jule wußte mit den Fischerkindern nichts anzufangen. Da er im Verkehr mit Menschen recht scheu war, stand er verlegen daneben. Es war ihm geradezu eine Pein, die neugierigen Blicke der Kinder über sich ergehen zu lassen. Am liebsten wäre er mit Pommerle allein gewesen, doch immer mehr Menschen begrüßten das Kind, ein jeder schien sich der kleinen Waise zu erinnern.
Pommerle zog es wieder zum Strande hinunter. Es wollte aber auch dem Jule das Haus zeigen, in dem es früher gewohnt hatte.
»Dort wohnt jetzt die Tante Pust, und der Bello muß auch noch dort sein. Er kennt mich genau. Wir wollen zu Onkel und Tante Pust gehen.«
»Kommst du dann baden?« fragten die Kinder.
»Ja, doch zuerst gehen wir zu Tante Pust.«
Jules schlechte Laune stieg. Auch jetzt war er mit Pommerle nicht allein, denn die Fischerkinder schlossen sich den beiden an. Jedes einzelne hatte Fragen an Pommerle zu stellen. Bei dieser Strandwanderung traf man auf zahlreiche Fischer, die mit dem Säubern der Netze beschäftigt waren. Das war dem Jule etwas ganz Neues. Am liebsten wäre er bei den Männern stehengeblieben und hätte zugesehen, wie sie alles für den nächsten Fischfang vorbereiteten. Doch Pommerle rief nach dem Gefährten, er mußte ihr Geburtshaus sehen.
Auch diesmal überkam das Kind wieder ein wehmütiges Gefühl, als es das kleine Haus betrat. Und noch schmerzlicher schlug ihm das kleine Herz, als es bei Pusts Onkel Ehmke sah, jenen Fischer, der fast täglich mit dem Vater auf See hinausgerudert war. Obwohl man sich bemühte, von Hanna alle traurigen Erinnerungen fernzuhalten, kam die Rede immer wieder auf den toten Vater und auf die noch früher verstorbene Mutter.
»Ich habe noch ein Bild von deiner Mutter, als sie so ein kleines Mädchen war, wie du heute bist«, sagte Fischer Ehmke, »das will ich dir schenken, Hanna. Du hast deine Mutter kaum gekannt, und jedes Kind muß doch ein Andenken an seine Eltern haben.«
»Oh, das Bild möchte ich wohl haben.«
»Und ein Bild von deinem Großvater habe ich auch.«
»Habe ich denn auch einen Großvater? Wo ist er?«
»Der ist schon lange tot, Pommerle, aber der Bruder von deinem Großvater lebt noch. Das weißt du wohl gar nicht, daß Onkel Will mit dir verwandt ist?«
Das wußte Pommerle nun freilich nicht und horchte erstaunt auf, als Fischer Ehmke ihm Mitteilungen von seinen Großeltern machte, die auch in Neuendorf gelebt hatten.
»Deine Großeltern und deren Eltern haben alle in diesem Orte gewohnt. Schon vor zweihundert Jahren hat es einen Fischer gegeben, der Ströde hieß. Wenn du erst groß bist, Hanna, mußt du dir alles das einmal nachlesen, das ist sehr interessant. Schließlich muß doch ein jedes Kind von seiner Heimat wissen, wie sie früher aussah und was im Laufe der Jahre aus ihr geworden ist.«
»Wenn du einmal länger hier bist«, fiel Fischer Pust ein, »führe ich dich in die Umgegend von Neuendorf, dann fahren wir mal durch die ganze Insel. Du kennst deine Heimat ja noch gar nicht, und dabei ist sie so schön.«
»Aber Hirschberg ist noch viel schöner«, klang es aus der Zimmerecke herüber. Es war Jule, der durchaus bei jeder Gelegenheit seiner schlesischen Heimat Lob singen mußte.
»Ich kenne Hirschberg nicht«, sagte Pust, »aber unsere Insel kenne ich genau, und die ist sehr schön.«
»Wir haben breite Straßen, wir haben Denkmäler, wir haben ganz in der Nähe hohe Berge, und darin gibt es viele schöne Steine So schöne Steine, daß der Vater vom Pommerle darüber Bücher schreibt.«
»Solche Denkmäler und solche Steine, wie ihr sie habt, haben wir natürlich nicht, aber wir haben dafür uralte Bäume und alte Steine, die aus der frühesten Zeit stammen. Ihr habt jetzt leider keine Zeit, sonst müßtet ihr mal zum Hexenstein oder zum Otternstein gehen, der Herr Professor aus Hirschberg würde Augen machen.«
Jule horchte auf.
Wenn man hier so berühmte Steine hatte, wollte er einen davon seinem Vormund mitbringen. Bender würde sich sehr freuen, wenn er in seine Steinsammlung den Hexenstein bekäme. Er fragte den Fischer genauer aus, der ihm immer mehr von den eigenartigen Steinen und Bäumen der Insel Wollin erzählte. So sollte der Heidenstein etwas ganz besonders Schönes sein, zu dem viele Spaziergänger wanderten.
»Den Heidenstein nehme ich mit«, murmelte Jule. Es galt jetzt nur noch, Herrn Stadler zu bewegen, daß er bei der Heimfahrt zum Heidenstein fuhr, daß man ihn ins Auto laden könne. Pust behauptete zwar, der Stein sei ein Riese, doch der Knabe glaubte seinen Worten nicht.
Pommerle hatte der Erzählung aufmerksam gelauscht. Es war ihm etwas ganz Neues, daß in seiner Heimat interessante Bäume standen, daß einzelne dieser Bäume mehr als dreihundert Jahre zählten und manche sogar Namen hatten.
»Ich möchte alles das einmal sehen.«
»Das ist recht, Pommerle. Man muß seine engste Heimat ganz genau kennen, denn dann erst empfindet man die rechte Liebe zu ihr. Es ist schade, daß der gelehrte Herr