Das rote Meer. Clara Viebig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clara Viebig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711466780
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ermannte sich die von Bewunderung und Respekt ganz Erstarrte: „Erich aber ooch!“

      Nun standen die Kinder beide auf dem sonnenbeglänzten weissen Kies.

      „Sie haben keine Schuhe an, auch keine Strümpfe,“ sagte Annemarie.

      Minna sah nieder auf ihre nackten braunen Füsschen; es war ihr noch nie eingefallen, dass man Schuhe und Strümpfe anhaben könnte, ehe es Eis fror. Jetzt war sie verlegen.

      Aber Erich sagte: „Schuhe sind zu teuer. Und Strümpe —? jiebt’s ja jar nich. Wenn Vater aus’m Krieg kommt, denn bringt er Leder for uns mit.“

      „Sie haben keine Mutter mehr!“ Frau von Voigt legte dem Jungen die Hand auf den Kopf. „Nun, immer brav gewesen?“

      Die Kinder zitterten: waren ihre Ohren auch sauber gewaschen? Oh, wenn die Müllern gewusst hätte, dass die Frau General sie sah, dann hätte Minna gewiss eine reine Schürze umbinden dürfen, und Erich hätte ein Taschentuch gekriegt. So musste er immerfort schnüffeln, wenn er nicht Talglichter ziehen wollte.

      „Hast du kein Taschentuch?“ Annemarie lachte hell. „Da nimm mal!“ Der Junge stand rot übergossen; sie fuhr ihm mit ihrem duftenden Tüchelchen über die Nase.

      Hedwig lächelte: das war doch eigentlich nett von der Schwiegertochter. Dann ging sie zum Teetisch, um den Kindern Kuchen zu holen.

      Die staunten: Kuchen?! Den hatten sie nicht mehr gesehen, seit die Mutter tot war. Sie wurden zutraulich. „Komm, spielen,“ sagte Minna und griff nach Rudis Händchen. „Erich, fass du auch an!“ Sie nahmen den Kleinen in die Mitte. „Nu spielen wer im Kreis!“ Minna ordnete geschäftig; sie mussten sich alle anfassen und im Kreise drehen. Der kleine Rudi hob die Beinchen und krähte vor Vergnügen.

      „Mariechen, warum weinest du,

      weinest du, weinest du — —“

      Die Kinder sangen aus Leibeskräften. Annemarie stand in der Mitte. Aber Minna war unzufrieden: „Nee, Sie müssen nich immerzu lachen, Sie müssen sich hinhucken un ’s Jesichte zuhalten, un janz schrecklich weinen.“

      „Mariechen, warum weinest du,

      weinest du, weinest du — —“

      „Wenn ich aber doch nicht kann!“ Annemarie wollte sich totlachen.

      „Na, denn:

      ‚Blauer, blauer Fingerhut,

      Hätten wir Jeld, das wär’ wohl jut!‘“

      Das hatte Annemarie auch in ihrer Kindheit gespielt, wenn vom Rhein her ein Wehen kam voll von Frische und Feuchte und Tang und Teer. Sie sang kräftig mit. Damals waren ihre langen Zöpfe geflogen, jetzt flatterten ihre duftigen Röcke. Immer rascher drehte sie sich. Minna war zufrieden.

      Lili wurde mit fortgerissen; sie fühlte heut ihre Jugend. Heute lastete auf ihrem Herzen keine Bangigkeit, es schlug so hoch, so voll, und rascher in einem Rhythmus stolzester Freude. Sie hob die Füsse geschwinder, höher, sie drehte sich im Wirbel, wie ein Taumel erfasste es sie. Es war ihr, als tanze sie einen Siegestanz: ihm, ihrem Helden zu Ehren.

      Sie waren alle fröhlich. Sie hatten es gar nicht acht, dass die Gartentür klinkte. Eine Depeschenbotin ging ins Haus.

      Während sie sich draussen noch drehten im harmlosen Singsang, stand Herr Bertholdi an seinem Schreibtisch. Schwer stützte er sich mit beiden Händen auf die Platte. Er hatte eben eine Depesche empfangen. Er hatte sie gelesen.

      ‚Leutnant Rudolf Bertholdi gestern Brustschuss. Soeben entschlafen.‘ —

      Was da noch stand vom ‚Heldentod fürs Vaterland‘, vom ‚Kreuz Erster noch erhalten‘, von ‚aufrichtiger Teilnahme‘, vom ‚Andenken in Ehren‘, das las er nicht mehr. Tot, Rudolf tot! Mit einer verzweifelten Gebärde fasste der Mann sich in das ergraute Haar: wie sollte er’s ihr sagen? Wie es ihr schonend mitteilen? Ihr Jüngster, ihr Liebster! Ein ‚Schonend-mitteilen‘ gab es nicht — — tot, tot! Ihr Rudolf, ihr geliebtestes Kind — arme Hedwig, arme Mutter!

      Draussen sangen sie: ‚Blauer, blauer Fingerhut!‘

      Wie Bertholdi es ihr gesagt hatte, das wusste er nicht. Er hatte lange gestanden und ratlos vor sich hingestiert, dann nach dem Mädchen geklingelt. „Rufen Sie meine Frau zu mir.“

      Was hatte der Herr? In des Mädchens frischem Gesicht erstarb plötzlich das Rot. Wie sah der Herr aus, da war etwas nicht in Ordnung! Eine Depesche war gekommen — sicher nichts Gutes — am Ende war Herrn Heinz etwas passiert! An den Jüngeren dachte die Emilie nicht, aller Gedanken hingen ja an dem Flieger. Als sie noch stand und ihn fragend anblickte, wiederholte Bertholdi ungeduldig: „Meine Frau, meine Frau!“ —

      Am Schreibtisch standen sie sich gegenüber. Hedwigs Brust atmete rasch, noch waren ihre Wangen rot, sie hatte sich nicht wehren können, die Jugend hatte sie mit in ihren Kreis gezogen. Die Haare hatten sich ihr gelöst, an den Schläfen ringelten ein paar Löckchen, sie sah gar nicht aus wie die Mutter von erwachsenen Söhnen.

      Bertholdi sah das alles, sah es heute mit einem schnellen, merkwürdig schnellen Blick — da stand sie vor ihm, wieder ganz das Mädchen, das er einst so sehr geliebt, so sehr begehrt hatte. Liebte er sie denn jetzt nicht mehr? Oh, noch viel mehr, heute im Unglück noch mehr. Er, der sonst nicht seine Zärtlichkeit zeigte, breitete beide Arme weit aus: „Hedwig!“

      Es musste etwas Seltsames im Ton seiner Stimme mitgeklungen haben, ihr eben noch heller Blick trübte sich, die Farbe schwand aus ihrem Gesicht, sie schien um Jahre älter mit einem Mal. „Was ist?“ Eine jäh aufgeschreckte Unruhe war in ihrer Frage. Und da wusste sie’s auch schon. Sie sah auf dem Tisch das Depeschenblatt, sie sah das Zucken um den Mund ihres Mannes, die Tränen in seinen Augen, und mit einem Ächzen stiess sie heraus: „Heinz!“

      „Nein!“

      Sie hob das erblasste Gesicht, mit einem wirren, entsetzten Ausdruck starrte sie ihren Mann an, dann schrie sie gellend auf: „Rudolf?!“

      Er nickte stumm. Er konnte nicht sprechen.

      Sie aber sprach. In wirren, wilden, sich überhastenden Sätzen. Sie hatte das Telegramm an sich gerissen, gelesen. Ach, diese paar kurzen knappen Zeilen, so wenig Worte um ein so geliebtes Leben! Sie knüllte die Depesche zusammen, warf sie zu Boden, hob sie dann wieder auf, glättete sie mit zitternden Fingern, las wieder und wieder.

      „Rudolf, mein Rudolf! Weisst du noch, wie er sagte: ‚Ich möchte wohl wissen, was wird, wenn der Krieg zu Ende ist, ich habe Angst davor‘ — nun braucht er keine Angst mehr zu haben — tot!“ Sie schrie in namenlosem Jammer. „Ich bitte dich —“ sie hob die gefalteten Hände gegen ihren Mann, riss sie dann wieder auseinander und umklammerte seinen Arm — „du musst ihn holen — wir wollen ihn herholen — ich will ihn hier haben — hier — bei mir — meinen Rudolf, meinen Jungen!“

      Die Frau des Sohnes war ganz vergessen; an sie dachten die Eltern noch nicht. Die Mutter war auf einen Stuhl gesunken, zusammengekrümmt sass sie. Tief, tief neigte sie das Gesicht, bis es fast auf ihren Knien lag. Hinter den vorgepressten Händen wimmerte sie, der Mann konnte es kaum ertragen.

      Machtlos, hilflos stand er bei seiner Frau, fast verging ihm der eigene Jammer vor ihrem Jammer. Ach, er hatte ja gewusst, wie sie das treffen würde. Er wagte es, seine Hand auf ihr Haar zu legen.

      Sie schrie wild auf: „Was hat er verbrochen? Tausende gehen in den Krieg und kommen wieder. Warum er, gerade er? Was habe ich verbrochen?!“ Sie hob den Kopf und starrte ihn mit funkelnden Augen an. Er hatte gerade etwas von Gott gesagt.

      Sie lachte schrill auf: „Gott?! Der schläft. Oder es gibt überhaupt keinen. Gäbe es einen, dann wäre dieser Krieg nicht!“ Sie riss die Hände vom Gesicht und ballte sie zu Fäusten: „Fluch über die, die diesen Krieg über uns gebracht haben — Fluch über sie alle, alle! Fürs Vaterland gefallen — Vaterland, was ist mir das?! Rudolf, mein Sohn, mein lieber, lieber Junge!“ Sie steigerte sich immer mehr: „Meinen Sohn, gebt mir meinen Sohn wieder!“

      War