Das rote Meer. Clara Viebig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clara Viebig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711466780
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Einmal hatten wir ihr schon eins versetzt, da ging se noch nich kaputt. Jetzt is se aber in Stücke. Wir kriegen se ja sonst nich runter aus’n Turm. Eigentlich schade drum.“ Der Mann wurde ernsthaft, er sagte verbissen: „Sie sollten mal lieber all die Standbilder von die Herrscher und die Militärs kaputtschlagen, die wären jrade jut vor’t Inschmelzen. Die taugen doch sonst zu nischt.“

      Der Arbeiter war längst vorüber, auch die Krüger mit ihrem Enkelkind weitergegangen, Frau Bertholdi stand noch immer an der Gartenpforte. Starr hing ihr Blick an dem Kirchturm, der schlank und spitz zwischen den dichten Wipfeln der Bäume durchlugte. Also daher der erschreckende Ton! War es schon so weit gekommen, dass man die Glocken einschmelzen musste? In der Zeitung war diese Idee einmal erörtert worden, aber nur als eine allzuweit vorausdenkende und gänzlich unnötige Vorsicht. Und wozu auch? Sie läuteten ja so viele Siege. Der Friede konnte nicht mehr fern sein. Was die Feinde in diesem Winter nicht hatten annehmen wollen, das Angebot des Friedens, das würde man ihnen, vielleicht in diesem Herbst noch, aufzwingen.

      Und doch fühlte Hedwig ihr Herz seltsam erbeben. Das schöne alte Kupfergerät, von Mutter und Grossmutter ererbt, hatte man gern hergegeben — mochten sie auch die Kupferdächer der Stadt abdecken — aber die Glocken, die Glocken! Sollten sie denn nicht mehr Siege einläuten, mit erzenen Stimmen von der Erde hinauf zum Himmel rufen?! Es durchschauerte die Frau. Gab es denn nichts, gar nichts mehr, was diesem Kriege heilig war?

      Es fehlten nur wenige Wochen noch bis zu dem Tage, an dem vor drei Jahren die beiden Bertholdi schen Söhne hinausgeeilt waren. Noch lebten sie — aber wenn der Krieg noch länger dauerte?!

      Immer furchtbarer wurde er. Die französische Offensive an der Aisne, in der Champagne war gescheitert, bei Arras hatten die Engländer ungeheure Verluste erlitten, deutsche Luftangriffe bedrohten das Inselreich, viele, viele tausend Tonnen Schiffsraum versenkte der uneingeschränkte U-Bootkrieg, und doch — woher kam es, dass die Gemüter sich noch immer nicht wieder neu belebten?! Man las, wie niedergeschlagen die Stimmung der Franzosen sei — sie hatten ja auch alle Ursache dazu —, aber warum hing der Deutsche den Kopf? Russland war doch nicht mehr zu fürchten, es hatte jetzt mit sich selber zu tun; und noch war kein Fussbreit besetzten Landes irgendwo wieder verlorengegangen.

      Geduld! Hoffnung! Mut! Zuversicht! Die Frau lehnte sich gegen das Gartengitter. Nicht um die Söhne zitterte heut ihr Herz, kleinmütiges Bangen, angstvolle Ungeduld verlernte sich nach und nach. Wenn die Briefe ausblieben, nun, dann wartete man, bis sie kamen. Und kamen sie noch immer nicht, dann wartete man wieder. Wartete weiter und immer weiter. Tage gingen hin, Wochen, Monate, für die Ungeduld krochen sie langsam, der Ergebung vergingen sie schneller. Aber die Glocken, die Glocken! Ein kaltes Grauen fröstelte plötzlich durch den warmen Tag. Im Hellen Licht der freundlichen Strasse stand etwas wie ein Gespenst.

      Gewaltsam schüttelte Hedwig Bertholdi schwere Gedanken ab: was nicht der Klageruf der sterbenden Glocke alles heraufbeschworen hatte! Sie atmete auf: ah, da kam endlich der kleine weisse Wagen mit dem kleinen weissen Kind.

      Unter den duftigen Vorhängen schlief Rudolf Bertholdis Knabe. Als die Grossmutter sich jetzt über den Wagen neigte, noch anmutig, jugendlich schlank, hätte man sie für die Mutter halten können. Ein zärtliches Lächeln machte sie noch jugendlicher; aber nun verlor es sich plötzlich: sie sah zum ersten Male, wie sehr das Kind seiner Mutter glich.

      Annemarie von Lossberg war nun schon zwei Jahre Rudolf Bertholdis Frau, aber die Mutter hatte sich mit der übereilten Heirat des Sohnes, mit seiner stürmischen Kriegstrauung noch immer nicht ganz aussöhnen können. Und Herr Bertholdi, der sich dem Reiz des schönen Mädchens nicht verschlossen hatte, war nicht mehr derselbe. Mit einer gewissen Verbitterung war er heimgekommen; sein Rheumatismus hatte sich zu stark gemeldet, im Felde hatte er nicht bleiben können. „Bloss Etappenschwein — nein, dafür danke ich!“ Leicht gereizt, missverstand er jetzt oft Annemaries sorgloses Wesen: machte sich die Schwiegertochter denn gar keine Gedanken, was einmal werden konnte? Hedwig zwang sich dazu, zu begütigen: „Lass sie doch lachen.“ Sie war so jung, so leichtblütig und lebenshungrig, man konnte von ihr nicht den Ernst verlangen, den die Jetztzeit erforderte. Wenn Annemarie Rudolf nur so liebte, wie die Mutter den Sohn geliebt wissen wollte.

      Die beiden waren wie die Kinder miteinander; sie lachten, sie tollten, sie genossen in vollen Zügen. Merkwürdig, dass einer, der von draussen kam, so schnell alles vergessen konnte! Die Bilder des Grauens, das ewige Sterbensehen, die eigene stete Todesgefahr. Rudolf Bertholdi war unersättlich im Vergnügen, die jungen Leute waren gar nicht zu sich selber gekommen während des letzten Urlaubs. Täglich fuhren sie nach Berlin.

      Der Urlaub fiel in den Vorfrühling, noch spielten alle Theater, überall Konzerte; Cafés und Kinos glänzten in Lichtfülle und wurden gestürmt. Hätte man nicht gewusst, es ist Krieg, man hätte daran gezweifelt in jenen Stunden vor Dunkelwerden, in denen eine schaulustige Menge durch die Strassen wogte. Die Damen elegant, in seidenen Kleidern, auf hohen Absätzen trippelnd. Noch Männer genug, die nicht in Feldgrau waren. Die Schaufenster noch voll von bunten Sammeten und Seiden und hauchfeinen Schleiergeweben, von Hüten neuester Mode und kostbaren Blumen. In den Dielen und den grossen Hotels zum Fünfuhrtee noch prickelnde Rhythmen; überall schnellpulsierendes Leben. Das Antlitz der grossen Stadt zeigte in diesen Stunden nicht die Schrunden und Risse, die ihm der bittere Ernst dreier Kriegsjahre eingegraben hatte. Und doch, wer näher zusah, entdeckte sie. All das war nicht das freie, frohe Treiben einer unbekümmerten Grossstadt mehr, das war ein ängstliches Sich-Anklammern an Vergangenes. Ein Kampf um Verlorenes. Ein aufgeregtes Die-Zeit-Hinbringen.

      Rudolf Bertholdi zweifelte keinen Augenblick daran, dass der Sieg auf deutscher Seite sein würde. „Wir draussen könnten es sonst wahrhaftig nicht mehr aushalten.“ Er war dazu ausersehen, immer gerade da zu sein, wo es am gefährdetsten stand. Seit einem Jahr war er Leutnant; er hatte es nun in vielem besser als damals, da er als gemeiner Kriegsfreiwilliger auszog; dafür lastete jetzt um so mehr Verantwortlichkeit auf ihm. Ob er sie leicht, ob er sie schwer nahm?

      Die Eltern wussten nicht viel von ihm, er sprach selten von draussen. Einen einzigen Abend nur von den drei Wochen des Urlaubs war er allein bei den Eltern gewesen. Seine junge Frau war müde von allem Vergnügen, sie war früh zu Bett gegangen, nun sass der Sohn zwischen den Eltern, und die Mutter hielt seine Hand leicht gefasst. Sie war glücklich, dass sie ihren Jüngsten nun einmal für sich hatte. Sie sah ihn an wie eine Liebende: hübsch war er geworden und kräftig und männlich. War das wirklich noch der einst so zarte Knabe mit der überempfindsamen Seele, der weinte, wenn man von Kindern sprach, die keine Mutter mehr hatten, der sich schluchzend an ihr Kleid klammerte, als er zum ersten Male in die Schule musste, der sich vor jedem Hund fürchtete? Zärtlich streichelte sie seine Hand. Sie hätte bitten mögen: erzähle! Erzähle, wie es gekommen ist, dass du so geworden bist, wie du jetzt bist! Aber ihre Liebe hielt sie zurück: warum an vielleicht Schreckliches erinnere, ihn in diesen frohen Tagen stören?

      „Was wohl wird, wenn der Krieg mal zu Ende ist?“ sagte Rudolf plötzlich. „Ich“ — er sagte es stockend — „ich habe Angst davor.“

      Stieg eine Ahnung in ihm auf, dass ein Urlaub von drei Wochen nichts anderes ist als ein einziger hingetaumelter Festtag? Und dass von diesem Taumel nichts bleibt, wenn erst die staubigen Alltagswochen eines Lebens wiederkommen, in das man sich eingewöhnen muss wie in etwas Fremdgewordenes. Aber Angst, warum Angst? Rudolf brauchte doch keine Angst zu haben? Er liebte, wurde wiedergeliebt, wenn er zurückkehrte, kam er in die gleichen wohlgeordneten Verhältnisse des Elternhauses, er hatte bei seiner Jugend noch nicht allzuviel versäumt, er konnte jeden Beruf ergreifen, zu dem er Lust hatte. Die Eltern waren förmlich bestürzt: Rudolf war nervös, er brauchte doch wahrlich nicht Angst zu haben.

      „Es ist schauderhaft,“ fuhr der junge Mann wie zu sich selber sprechend fort, „für so kurz draussen abzubauen und drinnen aufzubauen. Kaum hat man sich ein bisschen gefunden, muss man drinnen schon wieder abbauen und draussen wieder aufbauen. Man bekommt etwas so Unruhiges davon. Das beste wäre, man käme überhaupt nicht auf Urlaub. Du wirst mich vielleicht verstehen, Mutter!“ Er sah ihr besorgtes Gesicht. „Man wird der Heimat fremd, und die Heimat wird einem fremd; es macht Mühe, sich zurückzufinden, auch in die Allerliebsten.“

      „Lass das nur deine