Wollte es wirklich wieder Frühling werden? Man hatte im langen Winter ganz vergessen, daran zu glauben. Ewig eintönig waren die Tage gewesen; eines beschwingten Hoffens war man kaum mehr fähig. An der Front immer dasselbe: einmal ein Grabenstück verloren, das andere Mal wieder eins genommen, dann das genommene aufgegeben, um an anderer Stelle wieder eins zu nehmen. Ewig hin und her. Immer dieselben Berichte. Sie stumpften ab. Langsam schlichen die Tage, und doch rasten sie.
War es möglich, zeigten sich da am Busch die ersten kleinen, nur dem scharfen Blick sichtbaren Triebe? Und der Strahl der Februarsonne schien mild und laulich. —
Hedwig Bertholdi kam vom Kirchhof, dahin ging sie immer allein. Weinen wollte sie, unaufhaltsam weinen, es sollte keiner sprechen: „Weine nicht, tröste dich.“ Wenn ihre Tränen auf den Hügel rannen, fühlte sie sich dem Sohne näher. Der tauende Schnee sog das heisse Nass ein, es drang hinunter zu ihm, es tropfte warm auf seine Brust. Er lag da unten ja so kalt, dieser junge Mensch, dieses umhegte Leben. Dieser kleine Knabe, der in der Dämmerstunde auf ihrem Schoss sass, sein Köpfchen an sie lehnte und sich erzählen liess von Hänsel und Gretel und vom Rotkäppchen. Er schluchzte, wenn der böse Wolf das liebe Rotkäppchen frass, er lachte und klatschte in die Händchen, wenn der grüne Jäger kam und dem schlafenden Wolfe den Bauch aufschlitzte. Wie war das Kind so lieblich! Es bereitete ihr Seligkeiten. Alle Tage ging sie mit ihm spazieren, es pflückte Blumen: ‚Mutter, alle für dich!‘ Seine Augen strahlten sie an. Seine kleinen Arme umschlangen sie, zärtlich zog es ihren Kopf zu sich herunter und wollte sie gar nicht lassen, wenn sie sich über sein Bettchen beugte zum Gutenachtkuss.
Hedwig sah den Sohn als das Kind, als den kleinen Knaben, der ihr so grosse Freuden bereitet. Da gehörte er ihr ganz, einzig nur ihr; alles, was später kam, die ganzen letzten Jahre waren vergessen.
Heute trug die Mutter die ersten Schneeglocken zum Grabe; nun war es umgekehrt, sonst hatte das Kind ihr die ersten gebracht. Sie streute die Glöckchen über seinen Hügel: Frühling würde wieder erwachen, alles erwachen, er erwachte nicht mehr.
Langsam schlich sie dann zurück durch die Anlagen, die den Kirchhof vom Ort trennten. Besonnt lag der Weg vor ihr, ein viel zu früh herausgelocktes Insekt kroch langsam, noch halb im Winterschlaf, vor ihren Füssen. Sie fühlte sich müde, erschöpft; die matte Luft machte sie noch matter. Mochte nun geschehen, was da wollte, ihr war es gleichgültig; ein grösserer Schmerz konnte ihr nicht mehr kommen. Gab es denn überhaupt noch einen grösseren Schmerz?!
Da war eine Bank. Sie musste sich setzen. Sie schloss die Augen Als sie sie wieder öffnete, erschrak sie; es sass jemand neben ihr. Eine Dame, in Trauer wie sie auch. Das war jetzt nichts Besonderes, in Trauer gingen so viele, aber die Augen, die sie jetzt flüchtig streiften, hatten etwas, was ihr auffiel. Eine Leidensgefährtin, dachte Hedwig. Sie sah wieder weg. Hatte die auch ihren Sohn im Krieg verloren? Es lag etwas namenlos Trauriges in diesen dunklen Augen.
„Ist Ihr Sohn auch gefallen?“ Leise fragte sie es.
„Mein Mann ist gestorben.“
Hedwig dachte plötzlich an ihren Mann: wenn sie den Guten nicht mehr hätte!
Im Kriege war der Mann der Dame wohl nicht gefallen, er musste über die Jahre hinausgewesen sein. Ein bedauerndes ‚Oh‘. Sie sagte dann nichts mehr, die andere auch nichts; jede sah vor sich nieder und bohrte mit der Schirmspitze Löcher in den Sand.
Ob die denn nicht Kinder hatte, keinen Sohn draussen? Hedwig sah verstohlen wieder zu der Fremden hin. Ganz schüchtern fragte sie, sie schämte sich ihres Ausfragens und konnte es doch nicht lassen: „Haben Sie keinen Sohn im Krieg?“
„Doch.“ Die Dame stand auf, neigte leicht den Kopf zum Gruss und ging. —
Eine seltsame Frau! Warum lag in ihren Augen diese namenlose Trauer? Hedwig hatte in keines Menschen Auge je eine ähnliche gesehen. Aber wenn ihr Sohn doch noch lebte?! An diesem Tag beschäftigten sich Hedwigs Gedanken mit der Fremden.
Ganz erstaunt sah Bertholdi beim Mittagessen von seinem Teller auf: wie, seine Frau dachte einmal an etwas anderes als an den eigenen Schmerz?
Sie sagte: „Ich habe heut eine Dame getroffen, als ich vom Kirchhof kam, an die muss ich immerfort denken. Sie hat ihren Mann verloren“ — leise legte sie dabei ihre Hand auf die seine — „aber, weisst du, das allein kann es nicht sein. Ihr Sohn ist ja nicht tot.“
Zu anderen Zeiten hätte es Bertholdi vielleicht verletzt, dass seine Frau den Verlust des Mannes scheinbar weniger einschätzte als den des Sohnes; jetzt verstand er richtig: man leidet unter einer begrabenen Hoffnung — und was ist ein Sohn anderes als eine Hoffnung? — schwerer als unter dem Verlust gewesenen Glücks.
Als sie am Abend in ihren Betten lagen und er sich über sie beugte, um ihr den gewohnten Gutenachtkuss zu geben, sagte sie wie aus tiefem Nachdenken heraus: „Ich möchte wohl wissen, wer diese Frau ist.“
In dieser Nacht träumte Hedwig Bertholdi von ihrer Begegnung. Sonst hatte sie, wenn sie überhaupt schlief, nur wirre Träume — Blut, Grauen, Stöhnen, chaotischen Jammer, aus dem sie nichts herausschälen konnte, was irgendwie Sinn hatte und am Morgen noch als Erinnerung verblieb — heute nacht neigte sich die Fremde über sie. Die dunklen Augen blickten tief in die ihren: „Warum weinst du?“ — ‚Mariechen, warum weinest du, weinest du?‘ so hatten die Kinder gesungen an dem Nachmittag, an dem die Depesche von Rudolfs Tod kam.
„Warum weinst du?“
„Weil ich meinen Sohn, meinen Liebling verloren habe.“
„Du hast ihn nicht verloren, er ist noch dein. Er schläft nur. Hundert glückliche Erinnerungen verbinden dich mit ihm. Da ist nichts, was dich von ihm trennt. Deine noch lebendige Seele gleitet seiner abgeschiedenen zu, sie umschlingen sich. Glückliche Mutter, eine glückliche Mutter bist du!“
Die Fremde hob in beneidender Sehnsucht die Hände, es liefen Tränen aus den Augen, in die es sich hineinsah wie in eine unergründliche Nacht.
Glücklich, glücklich, — es gab also andere, die noch unglücklicher waren als sie? Verwundert sah Hedwig um sich, als sie am Morgen erwachte. Der Traum war ihr ganz lebendig. „Ich habe von der Frau geträumt,“ sagte sie zu ihrem Mann. „Merkwürdig. Und so eindringlich!“
Bertholdi sah seine Frau liebevoll an: Gott sei Dank, dass sie doch wieder an irgend etwas Anteil nahm!
„Du hast gut geschlafen.“
„Ja, und ich glaubte, ich würde gar nicht schlafen können. Ob ich sie wohl einmal wiedersehe? Wie gut, dass wir nicht in Berlin wohnen, da würde ich ihr wohl kaum wieder begegnen.“ —
Sie begegneten sich schon an einem der folgenden Tage, sie hatten ja beide das gemeinsame Ziel — den Kirchhof. Und dann gingen sie hintereinander her, durch die lange Reihe neuentstandener Gräber. Viele Gräber; es starben jetzt nicht bloss die Starken draussen, die Schwachen fielen auch hier. Wie auf geheime Verabredung trafen sie sich an der Kirchhofspforte. Ihre schwarzen Gestalten grüssten sich stumm. Am nächsten Tage schon gingen sie miteinander die Strecke durch die Anlagen, bis ihre Wege sich trennten. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen und nichts von Belang. Aber als Hedwig der schlanken Gestalt nachsah, und diese sich dann noch einmal wandte und stumm nach ihr zurückgrüsste, hatte sie das Gefühl einer wachsenden Sympathie.
Auf dem Grabstein des vor einem halben Jahre verstorbenen Justizrats Kettler stand: Geboren 1860, gestorben 1917. Noch kein alter Mann. Vor kurzer Zeit erst war er aus seinem Amt in Berlin geschieden. Ruhe, Ruhe, danach sehnte er sich, sehnten sie sich beide; so waren sie hier herausgezogen. Und hier hatte ihn die Frau nach wenigen Monaten begraben.
„An was starb Ihr armer Mann?“ wagte Hedwig eines Tages die Witwe zu fragen.
„Armer Mann! Ja, da haben Sie recht: armer Mann!“ Es klang unsäglich bitter. „Er starb an einem Herzleiden.“
Hedwig mochte nicht weiter fragen, es legte sich ein Zug von Leid um den Mund der anderen, der sie erschreckte. Der Sohn, der Sohn, warum sprach die Mutter nicht von ihrem Sohn?! War der verwundet? Gefangen?