Binia steht etwas verloren zwischen den Leuten. Sie ist nicht so behend wie sonst und ihr Gesichtchen blaß. Die dunklen Augen schauen auf den Teufelsgarten. Das ist nicht mehr der wilde unberührte Blumenjubel der letzten Tage. Die Männer haben ihn mit ihren schweren Schuhen niedergetreten, die Mädchen haben ihn abgerauft, die Buben haben den Königskerzen die Köpfe abgeschlagen und wälzen sich jetzt scherzend auf der verdorbenen Pracht.
Binia sieht Josi, Josi sieht sie; aber die beiden Kinder, die sich so gut waren, wissen nichts mehr miteinander anzufangen – es ist etwas zwischen ihnen, das vorgestern noch nicht war.
»Bini, was machst auch für ein barmherziges Gesicht?« Sie schrickt zusammen. Der Vater! Freundlich sagt er: »Du wirst gar verbrannt in der glühenden Sonne, geh ein bißchen an den Schatten!«
Folgsamer als je gehorcht sie. Sie wandelt zur Ruine hinüber. Dort stehen und sitzen Männer, der Kaplan Johannes, Bälzi, der Gemeindeweibel und andere. Die Schnapsflasche geht in der Runde, die Männer essen einen Imbiß von der Hand, sie plaudern und lassen sich's wohl sein und sehen die Augen Binias nicht.
»Heut' giebt's keine Tafel zu malen, Kaplan, Seppi schafft gut,« sagt der Weibel, der einen großen schönen Bart, aber einen schielenden Blick hat.
»Macht nichts – ich bin nicht gern der Unglücksrabe,« antwortete der Kaplan mit seiner hohlen Stimme.
»Ich glaube beim Eid, Seppi Blatter fällt – die elende Hitze – und erst dort oben – man wird da unten dumm, dort oben aber wird einer verrückt – die Männer, die stürzen, thun's, weil sie vom Sonnenstich wahnsinnig geworden sind.« Bälzi nahm einen Schluck.
»St. Jörg und einundzwanzig, das wär' ein Unglück – die Frau und die zwei Kinder!« So der Weibel.
Bälzi darauf: »Der Presi bekäme auch einen Schuh voll!«
»Wieso?« fragt Peter Thugi, der ein rechter Mann und der Aelteste einer weitverzweigten Familie ist.
Bälzi erwidert: »Das glauben doch nur Kinder, daß Seppi Blatter freiwillig an die Bretter gegangen ist. Man hat der Gemeinde Sand in die Augen gestreut. Ist's nicht wahr, Weibel?«
Dieser zwinkert zustimmend mit den Augen, aber er schweigt. Bälzi, dessen Blick vom Schnaps etwas verglast ist, lacht. »Der Presi hat mir die Pfeife zerschlagen, auf die Garibaldi gemalt ist. Sie war noch vom Vater selig. Aber jetzt schone ich ihn auch nicht mehr.«
Er erzählt den Lauschenden das Gespräch im Bären: »Und ich will ein brennender Mann werden, wenn's nicht wahr ist, er hat dem schlafenden Seppi Blatter die Feder in die Hand gesteckt und sie ihm geführt.«
Die Umstehenden fahren zurück. »Kaplan, was sagt Ihr dazu?«
Der Schwarze antwortet, da – ein gellender Schrei.
»Gott's ewiger Hagel, des Presis Kind!« So rufen sich die Männer in peinlicher Ueberraschung zu. Das Mädchen, das hinter einem abgestürzten Mauerteil gekauert ist, springt wie besessen davon, es eilt am Vater vorbei, es keucht den Stutz empor, es rennt ins Dorf zurück.
Wie der Presi nach ein paar Stunden nach Binia fragt, da sagt man ihm: »Sie ist heim zu Susi!« Da schüttelt er das Haupt und seufzt: »Sie ist dieser Tage so seltsam.«
Damit, was Bälzi über die Hitze sagte, hatte er recht.
Die Sonne! die Sonne! Die Luft im Thal zwispert, von den Weißen Brettern herunter kommt ein so heißer Strom, daß ihn selbst die erfrischenden Schwüle, die aus der Schlucht aufsteigen, nicht zu kühlen vermögen. Wie Blei fließt er in die Glieder, wie Spinnweb legt er sich um die ermattenden Sinne.
Der Mann, der über dem versammelten Dorf zwischen Himmel und Erde schwebt, steht im wachsenden Brand des Juninachmittags. Die Sonnenstrahlen liegen so auf den Weißen Brettern, daß die Augen schmerzen, wenn man eine Weile hinsieht. Sie flimmern, als sehe man, wie Licht und Hitze aus den Felsen strömen.
Ja, bei bedecktem Himmel könnte Seppi Blatter sein Werk wohl vollenden, aber in dieser mörderischen Glut, die Augen und Gehirn sengt. Der Sonnenstich!
Man sieht, daß er leidet. Seit einiger Zeit hat er die Kapuze seines Hirtenhemdes zum Schutze vor der Sonne um den Kopf gezogen. Die Aufregung wächst, die Frauen vor der Kapelle beten lauter. »Er kann's nicht vollenden,« hört man. »O, Seppi ist zäh,« antworten andere.
Jetzt ist die Arbeit soweit gediehen, daß Seppi mit dem Einlegen der Kännel beginnen kann. Immer noch schweben sie, einer um den anderen, viele Kirchtürme hoch, herab, und einen um den anderen stößt Seppi Blatter, auf ihm stehend, in die Reifen, löst die Seile der eingehängten, schwingt sich zum folgenden, und an den Felsen zeichnet die wieder erstehende Leitung eine dunkle Linie. Oft aber verzögert sich das Werk. Die sinkenden Kännel verfangen sich in den Seilen der nächsten, dann löst sie auf ein Zeichen aus dem Thal ein Zug aus der Höhe aus, und wenn sich ein Kännel befreit, schwankt das ganze Werk, als müsse es den Mann dort oben herunterschütteln wie einen Apfel vom sturmgerüttelten Baum. Oder Seppi Blatter löst die Kännel, die sich verfangen haben und sich in seinem Bereich befinden, selber aus, dann fliegen sie von der Felswand ab in die freie Luft und wieder schief zurück, daß er sich blitzschnell ducken muß, damit sie ihn nicht durch einen Schlag an den Kopf von seinem schmalen Stande werfen. Manchmal bei einem der entsetzlichen Schauspiele wagen die Zuschauer, die doch des Schreckens gewöhnte Bergleute sind, nicht zu atmen, die meisten Frauen, die das Schwanken des Gerüstes sehen, fliehen entsetzt zu der Kapelle zurück.
Selbst die harten Männer erliegen der furchtbaren Spannung. »Presi, gebt doch das Zeichen zum Abbruch. Morgen ist wieder ein Tag!«
Aber die Mehrheit ist der Ansicht, man solle, wenn Seppi Blatter nicht selber den Abbruch wünsche, in Gottes Namen mit dem Werk fortfahren, es sei auch mißlich, die Mannschaft auf dem Glottergrat im Freien übernachten zu lassen.
Dann und wann ruht Seppi Blatter eine Weile und stärkt sich an Speise und Trank. Besonders lang um vier Uhr des Nachmittags, ehe er die Führung der Leitung durch die größere Wildleutfurre in Angriff nimmt.
Josi, der vom frühen Morgen nicht von seiner Stelle gewichen ist, ist ins Gras gesunken und verbirgt sein Gesicht darin. Das starre Hinaufsehen, die Hitze, das Entsetzen! Der Taumel hatte sich seiner bemächtigt, ihm ist, glühendes Eisen senge sein Hirn, ruhelos wälzte er sich.
Fränzi und Vroni, die fast ununterbrochen vor dem Muttergottesbild gekniet sind, sehen das Leiden des Knaben und erbarmen sich seiner, obgleich das ihre nicht kleiner ist.
Eusebi, der scheue Stotterer, steht in der Nähe und schaut mitleidig auf ihn.
Seine Mutter, die stolze Gardin, will ihn mit zur Kapelle nehmen: »Man würde meinen, du gehörtest auch der Wildheuerin Fränzi!« Der blöde Knabe sagt: »L-l-os, M-m-mutter, ich w-w-mill da-da bl-bleiben!«
Sie läßt ihn, sie kann gegen ihn nicht hart sein, obschon es sie gerade heute ärgert, daß sie so ein häßliches Kind hat und die anderen so blühende Jugend. Eben Fränzi.
Seppi Blatter ist wieder an der Arbeit. In der großen Wildleutfurre! An einem Seil schwingt er sich mit mächtigem Satz in das Innere der schrecklichen Kluft und hängt an ihren Klippen. Fahnenzeichen! – Mehrere Kännel senken sich in die Schlucht und schweben frei. Und mit mächtigem Schwunge holt er jeden einzelnen ein. Er verschwindet damit im Innern der Kluft, wo man seine Thätigkeit nicht sehen kann. Kännel um Kännel zieht er ein, jetzt wird die wachsende Leitung am Rand der Schlucht wieder sichtbar, das Fürchterlichste ist gethan. Aber je länger, je unsicherer werden Seppis Schwünge, zwei-, dreimal sieht man ihn ansetzen, bis er das Ziel erreicht.
Sechs Uhr! Erfrischende Kühle strömt durchs Thal, lebhafte Bewegung ist unter dem Volk.
Seppi Blatter hat über die ganzen Weißen Bretter hin die Kännel gelegt, der Rest, der ihm zu thun bleibt, ist leicht.
Da stupst Eusebi den daliegenden