Mutter Angelica. Raymond Arroyo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Raymond Arroyo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783947931774
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zutage. Die einzelnen Temperamente, der familiäre Hintergrund, die Bildung und die Begabungen unterschieden sich von Schwester zu Schwester so sehr, dass es immer wieder zu Auseinandersetzungen kam. Es wurden Gefühle verletzt und Missgunst gesät. In diesem Mikrokosmos des Lebens bemühten sich die Nonnen, ihre persönlichen Schwächen zum Wohl der Gemeinschaft zu bekämpfen. Schwester Angelica bildete da keine Ausnahme. Um ihren Zorn und ihre schnelle Zunge unter Kontrolle zu halten, war sie zu Bußübungen bereit. Es war jedoch eine strengere Disziplin erforderlich, um ihre Ungeduld zu zügeln, vor allem, wenn sie bestimmten Schwestern begegnete.

      „Einmal sagte ich zum Herrn: ‚Egal, was heute passiert, ich werde auf Biegen und Brechen meine Geduld nicht verlieren‘“, erinnerte sich Mutter Angelica. „Und um 9 Uhr kam es dann zum Biegen und Brechen. Ich habe es nicht geschafft. Ich versagte!“

      Im Herbst 1945, als bereits Pläne gemacht wurden für ein neues Kloster in New Orleans, rief der Bischof der Diözese Youngstown, James McFadden, Mutter Agnes zu sich. Er hatte einen anderen Vorschlag.

      John O’Dea, der im Ruhestand lebende Eigentümer eines Stahlwerks in Canton, wollte sein Haus und seinen Besitz an einen kontemplativen Orden verschenken. John und Ida O’Dea stellten nur eine Bedingung: Im Haus sollte die ewige Anbetung des Allerheiligsten Altarsakramentes gehalten werden. Nach reiflicher Überlegung nahm Mutter Agnes das Angebot an, ließ die Pläne für das Kloster in New Orleans fallen und machte sich daran, sechs Nonnen auszuwählen, die sie mit der Neugründung in Canton betrauten wollte. Mutter Mary Clare, die Vizeoberin in Cleveland, sollte Äbtissin des Klosters in Canton und Mutter Luka ihre Stellvertreterin werden.

      Die Äbtissin rief Schwester Angelica „von den geschwollenen Knien“ in ihr Büro. Mutter Agnes wandte sich mit ernster Miene an die Nonne und sagte: „Mutter Clare und ich haben eine Entscheidung getroffen.“ Schwester Angelica stellte sich schon die schrecklichsten Dinge vor, wie zum Beispiel: Sie müssen nach Hause zurückkehren. Sie haben keine Berufung. Ihre Gesundheit ist ein Punkt… Die Äbtissin fuhr fort: „Mutter Clare glaubt, dass die Treppen der fünf Stockwerke hier im Haus Ihre Knieprobleme verursachen, sodass wir entschieden haben, Sie in unsere Neugründung nach Canton zu schicken.“

      Unter normalen Umständen kamen nur Professschwestern für eine Neugründung infrage, und eine Schwester in ihre Heimatstadt zu versetzen, war streng verboten. Doch dies waren eben keine normalen Umstände. Entweder verbesserte sich Angelicas Zustand, oder sie würde aus dem Ordensleben ausgeschlossen.

      Canton sollte demnach ihre letzte Chance sein: die Arena, in der ihre Berufung auf die Probe gestellt und ein abschließendes Urteil gefällt werden würde. Mit Befürchtungen, jedoch im Gehorsam nahm Schwester Angelica die Versetzung an.

      5. Kapitel

      St. Klara

      Schwester Angelica verspürte stechende Schmerzen in ihren Knien, als sie gemeinsam mit den anderen fünf Schwestern am 1. Oktober 1946 in John O’Deas Limousine stieg und das Kloster verließ. Mit Schwester Angelica zusammen fuhren noch Mutter Clare, Mutter Luka, Schwester Veronica, die Novizenmeisterin, Schwester Mary vom Kreuz, eine Schwester, die aus einem anderen Orden übergetreten war, sowie Schwester Joanne, eine Postulantin, nach Canton.

      Besonders für Mutter Clare war es ein schwerer Abschied. Die dreiundsiebzigjährige Äbtissin ließ Mutter Agnes, ihre beste Freundin, zurück, die sie 1921 im Kloster in Wien kennengelernt hatte. Während der Fahrt ließ die Äbtissin keinerlei Gefühlsregung erkennen, stattdessen hielt sie schon wegen der anderen Schwestern ihren Kopf wie eine Marmorbüste hoch.

      Schwester Angelicas neues Heim hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer Kammer im Südosten Cantons. Die Villa mit den vierundzwanzig Zimmern lag auf einem üppig bepflanzten Grundstück von sechs Hektar Land in einem vornehmen Viertel an der Market Avenue North, Hausnummer 4200, in Canton. Das Haus des Ehepaars O’Dea mit seinen vielen offenen Kaminen und den aufwendigen Wandvertäfelungen, erbaut im Tudor Stil, war von einem kleinen Wald umgeben, der immer wieder von gepflegten Rasenflächen unterbrochen wurde. Es schien für die Armen Klarissen doch zu protzig. Da musste manches geändert werden.

      Als erste Aufgabe wurde die Errichtung einer provisorischen Kapelle im großen Wohnzimmer in Angriff genommen. Die übrige Villa sollte aufgeteilt werden in ein Refektorium, ein Krankenzimmer sowie Arbeits- und Schlafzimmer. Am ersten Abend wurden mehrere Betten nach Art eines Schlafsaals aufgestellt und Bettlaken zwischen die Betten gehängt, damit die Privatsphäre gewahrt blieb. Um keine weiteren Probleme und Schmerzen mit ihren geschwollenen Knien zu bekommen, rollte Schwester Angelica Decken zusammen, legte sie unter ihre Beine und suchte eine bequeme Position im Bett.

      Als Angelica am Morgen des 2. Oktober aufwachte, warf sie die Bettdecke zurück und konnte kaum glauben, was sie da sah: „Beide Knie waren wieder normal.“ Die Schwellung war abgeklungen, das Wasser war verschwunden. „Und dies überzeugte die Schwestern nun, dass ich eine Berufung hatte“, erzählte mir Mutter Angelica mit Erstaunen. „Das überzeugte auch Mutter Clare. Und so wartete ich nur noch zwei Monate, bis ich meine Profess ablegte.“ Die rasche Besserung ihrer Knie wurde von Angelica als Zeichen der Gnade Gottes betrachtet, als eine Bestätigung, dass sie in den Orden gehörte und in das Kloster in Canton.

      Einstweilen befand sie sich aber noch inmitten ihres kanonischen Jahres. Dieser Zeitabschnitt war besonders dafür bestimmt, sich an die Gepflogenheiten des kontemplativen Lebens zu gewöhnen. In diesem kanonischen Jahr war es der Schwester nicht erlaubt, mit irgendjemand von der Familie oder Freunden und Bekannten Kontakt zu haben.

      Da die hausinterne Kapelle immer noch nicht fertiggestellt war, wurden Schwester Angelica und die anderen Nonnen zur St. Peter-Kirche gefahren. Dort besuchten sie die Frühmesse von Monsignore Habig. Gegen Ende des Gottesdienstes erregte ein Angelica vertrautes Hustengeräusch ihre Aufmerksamkeit. „Ich hörte meine Mutter. Und weil ich meine Mutter und ihre Gefühlsausbrüche kannte, wusste ich nicht, was ich tun sollte.“ Schon wieder drängte Rita Rizzos Sorge über Maes Gefühlszustand alle anderen Gedanken beiseite.

      Nach dem Schlusssegen gingen die Nonnen hintereinander aus der Kirche, als letzte folgte Schwester Angelica. Aus den Augenwinkeln konnte sie neben den Beichtstühlen eine verwirrt aussehende Mae wahrnehmen. Es war nicht schwer zu erraten, was Mae tun würde. Obwohl es Angelica das Herz zerriss, blieb sie doch der Ordensregel gehorsam, wich den Augen ihrer Mutter aus und blickte stattdessen geradeaus. Mae machte eine Bewegung mit der offenen Hand. Im Gesicht zeigte sich ein flüchtiger Ausdruck der Trauer. Sie bewegte sich jedoch nicht, als Rita an ihr vorbeiging.

      Später an diesem Nachmittag bekannte Mutter Clare, dass sie und die anderen Schwestern von Angelicas Zurückhaltung bei der Messe „erbaut“ waren. Dieser Vorfall hatte doch bestätigt, dass die Nonne für die ersten Gelübde bereit war, verschaffte ihr gleichwohl in der Zukunft keine besondere Behandlung.

      In den ersten Wochen im Haus der O’Deas ließ Schwester Angelica ihr Badewasser in eine der wuchtigen Wannen mit Füßen einlaufen. Als sie den Hahn zudrehen wollte, zerbrach der Porzellangriff in ihrer Hand und schnitt dabei eine klaffende Wunde zwischen ihren Ring- und Mittelfinger. Mutter Luka legte einen Verband an, um die Blutung zu stillen, doch die rechte Hand schwoll trotzdem an. Da ihre erste Profess gerade erst einige Monate zurücklag, konnte Angelica jetzt an nichts anderes denken als an ihren rechten Ringfinger. Nach der europäischen Tradition wurden die Eheringe im Orden an der rechten Hand getragen.

      Am nächsten Tag war Mutter Clare „wütend“ bei den Culpas. Die Culpas, lateinisch für „Schuld, Verfehlung“, waren die besondere Zeit vor den Mahlzeiten, jeweils montags, zu der jede Schwester irgendein Vergehen vor der gesamten Gemeinschaft bekennen musste. Die Äbtissin ordnete dafür eine gerechte Buße an.

      „Mutter, ich klage mich an, den Porzellangriff an der Badewanne zerbrochen zu haben“, erklärte Schwester Angelica, auf dem Boden des Refektoriums kniend.

      „Ich weiß! Jetzt sind wir gerade ein paar Wochen hier, und Sie machen hier schon alles kaputt“, schimpfte Mutter Clare mit einem starken deutschen Akzent.

      Als Schwester Angelica