London, den 30. November 1801Alexander MacKenzie
TAGEBUCH EINER REISE ANS EISMEER IM JAHRE 1789
ERSTES KAPITEL
Am 3. Juni 1789 brachen wir früh um 9 Uhr von Fort Chipewyan an der Südseite des Athabaska-Sees mit einem aus Birkenrinde gefertigten Kanu auf. Meine Mannschaft bestand aus vier Kanadiern, von denen zwei ihre Frauen dabei hatten, und einem Deutschen. Dazu begleiteten uns noch in zwei kleineren Kanus ein Indianer, der »English Chief« genannt wurde, mit seinen beiden Frauen und zwei junge Indianer, die wir als Dolmetscher und Jäger in unsere Dienste genommen hatten. Der English Chief war schon bei der Expedition dabei gewesen, die Samuel Hearne zum Coppermine River geführt hatte10, und galt seitdem als einer der wichtigsten Männer unter den Eingeborenen, die ihre Pelze nach Fort Churchill, einer Niederlassung an der Hudson Bay, brachten.
In einem weiteren Kanu saß Laurent Le Roux, ein Clerk der Company. Er führte einen Teil der Lebensmittel für uns und die Jäger mit sich, ebenfalls unsere Kleidung, ein großes Sortiment an Geschenkartikeln für die Eingeborenen, auf die wir treffen würden, sowie Waffen und Munition zu unserer Verteidigung.
Zunächst fuhren wir etwa 30 Meilen11 in nordwestlicher Richtung über den See, bis wir in einen Flussarm gelangten, den wir sieben Meilen nordwärts hinaufsteuerten. Gegen sieben Uhr am Abend gingen wir an Land und schlugen unsere Zelte auf. Die Kanus wurden aus dem Wasser genommen und sorgfältig abgedichtet12; in der Zwischenzeit erlegte einer unserer Jäger eine Gans und ein paar Enten.
Am nächsten Tag paddelten wir schon um vier Uhr früh den Flussarm weiter hinauf, bis dieser sich im Peace River verlor. – Die Ufer dieses Flussarms sind ziemlich flach, und das dahinterliegende Land ist mit Birken, Fichten der verschiedensten Arten, Pappeln und Weiden bewachsen.
Der Peace River ist ungefähr eine Meile breit und seine Strömung viel stärker als die des mit dem See in Verbindung stehenden Kanals, den wir vordem befahren hatten. Einige Meilen flussabwärts heißt er dann Slave River13. Nun ging unsere Fahrt zwischen vielen kleinen Inseln hindurch und über ungefährliche Stromschnellen hinweg, bis wir die Mündung des Dog River passierten. Abends landeten wir am östlichen Ufer des Slave River in der Nähe einiger großer Stromschnellen und entluden unsere Kanus. – An dieser Stelle ist der Fluss fast zwei Leagues14 breit.
Am 5. legten wir morgens um drei Uhr ab, nachdem wir wegen der Stromschnellen unsere Kanus um einige Gepäckstücke erleichtert hatten. Wir konnten dieses Hindernis ohne weitere Schwierigkeiten hinter uns bringen, steuerten nun in einen kleinen Kanal hinein und kamen nach etwa einer halben Stunde zu einer Portage15. Bis auf das letzte Stück war dieser Weg sehr bequem, allerdings hatten wir wegen des noch nicht aufgetauten Eises am Ufer erhebliche Probleme, die Boote wieder auf den Fluss zu setzen und sie zu beladen. Schon nach sechs Meilen mussten wir bei der »Portage d’Embarras« (Portage der Schwierigkeiten) wieder an Land, da Treibholz den kleinen Kanal hier völlig anfüllte.
Noch drei weitere Portagen, und wir gelangten wieder in den großen Fluss. Nach kurzer Fahrt mussten wir wegen einer Meile voller gefährlicher Stromschnellen über die Portage, die »Pelican« genannt wird16; der Landungsplatz ist hier sehr steil und liegt nah an einem Wasserfall. Die ganze Gesellschaft musste jetzt das Gepäck samt den Kanus über einen Berg tragen. Doch bevor wir die mühsame Besteigung begannen, wäre fast noch ein Unglück geschehen, denn eins der indianischen Kanus ging den Wasserfall hinunter und wurde vollständig in Stücke zerschlagen. Die Indianerin, die darin saß, konnte es zwar gerade noch rechtzeitig verlassen und dadurch ihr Leben retten, doch verlor sie so ihre gesamte geringe Habe.
Nach diesem Zwischenfall ging es weiter Richtung Nordwesten. Schon bald erreichten wir die »Portage des Noyés« (Portage der Ertrunkenen) und waren gezwungen, wegen riesiger Stromschnellen den Fluss zu verlassen und diese schlecht begehbare, etwa 535 Schritt lange Wegstrecke zu benutzen. Sie hat diesen Namen erhalten, weil an dieser Stelle im Herbst 1786 fünf Männer im Fluss ertrunken sind; sie waren unter der Führung von Cuthbert Grant auf dem Weg zum Sklavensee. – Am Nachmittag lagerten wir auf einer felsigen Landspitze, und obwohl die Mannschaft sehr ermattet war, schafften die Jäger sieben Gänse, vier Enten und einen Biber herbei.
Am nächsten Tag bauten wir schon früh am Abend unser Lager auf und warfen in einem kleinen Kanal unsere Netze aus. – Den größten Teil des Tages hatten wir starken Gegenwind gehabt, und es war so kalt geworden, dass selbst die Indianer ihre Pelzhandschuhe anzogen. –
In den folgenden zwei Tagen kamen wir nur circa 13 Meilen vorwärts, denn heftiger Regen zwang uns immer wieder, an Land zu gehen und auszuladen, damit unsere Waren nicht nass würden.
Erst am 9. wurde das Wetter wieder ruhiger, allerdings lag dicker Nebel über dem Wasser. Bei unserer Weiterfahrt in nordwestlicher Richtung bemerkten wir am rechten Ufer eine Öffnung; da wir sie für den Eingang in einen Flussarm hielten, steuerten wir hinein, doch lag dahinter ein kleiner See, sodass wir wenden mussten. Nach drei Meilen in Richtung Südwesten kamen wir am östlichen Ufer des Flusses an einen winzigen Arm, der sich in nördlicher Richtung dahinschlängelte. Wir folgten seinem Lauf und erreichten gegen neun Uhr am Morgen den Sklavensee17. Das Klima hatte sich sehr verändert; es war bitterkalt geworden. Der See war ganz mit Eis bedeckt, nur längs des Ufers schien eine Fahrrinne offen zu sein. Selbst die Mücken und Moskitos, die uns bisher arg geplagt hatten, wagten es nicht, uns in diese eisige Region zu folgen. –
An den Ufern des kleinen Flüsschens waren die landesüblichen Hölzer voller Blätter gewesen, obwohl dort das Erdreich noch nicht über 14 Zoll18 aufgetaut war – doch entlang der Seeufer war so gut wie kein Grün zu entdecken. –
Nach Aussage der Indianer sollen in geringer Entfernung vom Flussufer ausgedehnte Ebenen liegen, die von großen Büffelherden aufgesucht werden. In den vielen kleinen umliegenden Flüsschen und Seen bauen zahlreiche Biber ihre Burgen, da in den größeren Gewässern im Frühling alles vom auftauenden Eis fortgerissen würde. Die morastigen Ufer sind von großen Scharen Federwilds bevölkert – an diesem Morgen erbeuteten wir in nur einer Stunde zwei Schwäne, zehn Gänse und einen Biber; wir hätten leicht soviel erlegen können, um alle unsere Kanus damit anzufüllen. –
In östlicher Richtung steuerten wir nun aus unserem kleinen Fluss hinaus in den See und entlang einer mit Treibholz und Weiden bedeckten Sandbank. Da das Wasser nur drei Fuß19 tief war, liefen wir oft auf Grund. Schließlich landeten wir auf dieser Sandbank, schlugen unsere Zelte auf und entluden die Kanus, denn es sah so aus, als müssten wir hier eine Weile bleiben. – Die Sandbank erstreckt sich übrigens längs des Festlandes bis zu der Stelle, an der Le Roux und Grant im Jahre 1785 einige Blockhütten errichteten.20 – Ich befahl meinen Leuten, die Netze auszuwerfen, da es besser war, die für die weitere Reise bestimmten Vorräte unberührt zu lassen. Unsere reiche Beute bestand aus Karpfen, Weißfischen, Forellen und dem sogenannten »Poisson inconnu« (Unbekannter Fisch).
Am 12. wurde das Wetter schöner, und die Moskitos besuchten uns wieder in größeren Mengen. Ein starker Westwind brachte das Eis ein wenig in Bewegung, und ich bestieg einen Hügel, um vielleicht sehen zu können, ob es in der Mitte des Sees gebrochen wäre, konnte jedoch nichts erkennen.
Am 13. war es bedeckt, und am Abend blies der Wind aus Norden. Er trieb das Eis wieder zurück, das jetzt längs des Ufers stark gebrochen war und unsere Netze bedeckte. Einer unserer Jäger, der tags zuvor zurück an den Slave River gegangen war, kam mit reicher Jagdbeute zurück. In seiner Begleitung war eine indianische Familie, die am selben Tag wie wir Fort Chipewyan verlassen hatte. Diese Leute führten keinerlei Proviant mit sich, was sie damit entschuldigten, dass sie so eilig aufgebrochen seien, dass sie sich nicht mehr hätten versorgen können. Sie wollten mit uns kommen. –
Obwohl es in der Nacht auf den 15. stark geregnet hatte, war am Morgen das Ufer noch so voller Eis, dass wir nicht einmal unsere