David Deutsch gehörte zu den Bewunderern Martins. Übrigens war es in Berlin zwischen den beiden über eine flüchtige Bekanntschaft, die Mutter Schwalbe vermittelt hatte, nicht hinausgekommen. Der junge Philosoph und Soziologe, die Stille kleiner Universitätsstädte gewohnt, fühlte sich unsicher, gehemmt, oft sehr unglücklich im Berliner Betrieb. Es gab dort nur wenig Menschen, die ihn kannten und seine intellektuellen Gaben zu schätzen wußten. Seine Doktorarbeit hatte in Fachkreisen ein gewisses Aufsehen gemacht; aber die Berliner Literaten wußten weder von ihr, noch von den Studien über die Vorsokratiker, über Kierkegaard, Nietzsche und Marx, die David in einer Heidelberger philosophischen Revue publiziert hatte. — In Wahrheit verhielt es sich so, daß Martin den jungen Gelehrten damals ein wenig von oben herab zu behandeln pflegte. Im Exil aber begegnete man sich zunächst ohne jene Voreingenommenheiten, durch die in Berlin die verschiedenen Zirkel und Cliquen voneinander separiert worden waren. Eine neue Herzlichkeit stellte sich her, so etwa wie nach Naturkatastrophen; die Bewohner eines brennenden Hauses, die sich auf der Straße vor den Trümmern ihrer Habe zusammenfinden, oder die Passagiere eines sinkenden Schiffes im Rettungsboot, vergessen Unterschiede, die noch vor Stunden bedeutsam waren.
Bei der zweiten Flasche Rotwein wurde die Stimmung der Vier am Tisch lebhafter, beinahe munter. Die Schwalbe entwickelte ihren Plan, in der Montparnasse-Gegend ein kleines Restaurant aufzumachen —: »ganz nach dem Muster meiner Berliner Kaschemme. Dort sollt ihr anständig zu essen kriegen — nicht so ein kümmerliches ›Schnitzèle Viennois‹, wie man mir gerade eines vorgesetzt hat. Ich habe schon einen bestimmten Platz im Auge«, berichtete sie, und ihre blauen Kapitänsaugen leuchteten. »Aber ich sags noch nicht, welchen. Ich bin abergläubisch. Ehe der Mietsvertrag unterzeichnet ist, erfährt kein Mensch, wo die Schwalbe sich diesmal niederläßt!« Sie redete geheimnistuerisch und verheißungsvoll, wie zu Kindern, denen man die Herzen mit Sehnsuchts-Neugier nach den Wonnen eines Weihnachtsabends füllen will. In der Tat erreichte sie durchaus den gewünschten Effekt: die drei jungen Menschen wurden animiert und wollten mehr wissen. Wann Mutter Schwalbe ihren Laden zu eröffnen gedenke? Ob es auch Musik geben solle, und vielleicht gar etwas Platz, um nach dem Essen zu tanzen? — »Und eine Bar!«, rief Marion, plötzlich guter Laune. »Ich finde, eine Bar solltest du einrichten. Wir wollen es doch schließlich auch etwas pariserisch haben!« Sie sah vergnügungssüchtig aus und hatte schöne, wilde Gebärden. Ihre großen, jünglingshaft harten und sehnigen Hände formten etwas in der Luft, was die Konturen einer Flasche bedeuten konnte. Dabei stieß sie ein gefülltes Weinglas um. Marion hatte die Eigenheit, immer irgend etwas umzuwerfen und kleine Katastrophen anzurichten, wenn sie in Aufregung geriet. Sie war ebenso ungeschickt wie enthusiastisch. Nach malheurhaften Zwischenfällen solcher Art pflegte sie sich selbst zu beschimpfen — »dummes Ding! Mußte das sein! Grundalberne Kuh!« —; dazu schüttelte sie zornig den Kopf; die lockere Fülle ihres rotbraunen Haars, das einen Purpur-Schimmer hatte, fiel ihr in die Stirn, bis zu den Augen.
Sie beschlossen, den Kaffee in Montparnasse zu nehmen. Dort würde man bestimmt Bekannte treffen. »Ich glaube, die gute Dora Proskauer ist heute aus Berlin angekommen«, sagte die Schwalbe. »Sie wird uns etwas Neues erzählen können.« Marion sagte: »Vorher muß ich noch bei den ›Deux Magots‹ vorbeischauen. Marcel hat versprochen, dort auf uns zu warten.«
Sie gingen zu viert nebeneinander, Arm in Arm, das kleine Stück des Boulevard St. Germain hinunter, das die Ecke der rue des Saints Pères vom Platz St. Germain des Près trennt. Der Abend war milde, im glasig durchsichtigen Himmel gab es noch ein wenig Licht. Aus dem Halbdunkel, in dem die Töne eines verblichenen Rosa sich mit den unendlich vielen Nuancen des Grau vermischten, traten die Umrisse der alten, schmalen, vornehmen Häuser zart und deutlich hervor. »Wie schön Paris ist!«, sagte Martin, andächtig leise. »Man hätte sich viel früher dazu entschließen sollen, hier zu leben . . . Es ist, wie wenn man einen Menschen, zu dem man ganz paßt und mit dem man vielleicht sehr glücklich hätte sein können, etwas zu spät, unter melancholischen Umständen kennenlernt . . .«
Sie standen zu dritt an der Ecke des Boulevards und des Platzes. Marion war ins Café gegangen, um Marcel zu holen. Vor einem Zeitungskiosk, der englische, amerikanische, italienische, deutsche, holländische, spanische und dänische Blätter anbot, drängten sich Menschen: Pariser Studenten, den bunten Wollschal apachenhaft um den Hals geschlungen, auf dem Kopf die kleine runde Baskenmütze; junge Engländer und Amerikaner, barhäuptig, die Zigarette im Mund, die Hände in den Taschen der weiten Flanellhosen vergraben; bunt hergerichtete Frauen, einige schon im Frühlingskostüm, andere noch im Pelz.
David Deutsch sagte: »Ich habe wirklich ein wenig Herzklopfen, weil ich Marcel Poiret kennenlernen soll.« Daraufhin Martin, verwundert: »Haben Sie ihn denn in Berlin nie getroffen?« Die Frage war ihm gleich etwas peinlich; er vergaß immer wieder, daß David in Berlin ja nicht zum gleichen ›Set‹ gehört hatte wie er selber und Marion. — David versetzte nicht ohne Hochmut: »Ich habe in Berlin nur sehr wenig Menschen gekannt. — Aber ich habe alle Bücher von Poiret gelesen«, fügte er hinzu. Diese Bemerkung ließ die alte Schwalbe ein wenig gehässig werden. »Natürlich! Freilich!« rief sie aufgebracht. »Von wem hätte er denn nicht alle Bücher gelesen?!« — Wirklich war die literarische Bildung des jungen Deutsch lückenlos in einem erstaunlichen Grade. Von den vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachte er acht oder zehn mit Lektüre. Sein Gedächtnis war von einer fast krankhaften Stärke; er litt unter seiner Zuverlässigkeit wie unter einem Fluch. — »Besonders mag ich die ersten kleinen Bücher von Poiret«, sagte er jetzt und lächelte seiner mütterlichen Freundin zu, gleichsam um Verzeihung bittend. »Das sind traurige, reine Dichtungen. Als er seine große Ratlosigkeit noch zugab, fand er die rührendsten Töne. Die Begegnung mit der Politik kann für junge Dichter gefährlich werden . . .« — Martin sagte — schnell und leise; ganz ohne die schleppend-kokette Manier, in der er sich sonst gefiel —: »Aber ist es denn besser, wenn man der Politik ausweicht? . . . Wie man es auch immer anfaßt, und wie man sich auch entscheidet: die Zeit ist gefährlich für junge Dichter . . .«
Marcel Poiret pflegte seit mehreren Jahren einen Teil des Winters in Berlin zu verbringen. Einer seiner Romane war in deutscher Übersetzung erschienen und hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. Boshafte Kritiker, die dem jungen Poiret übelwollten, behaupteten, daß man ihn ›auf der anderen Seite des Rheins‹ irrtümlich für einen französischen Dichter halte, während man in Paris sehr wohl wisse, daß er nur einer von jenen zahllosen jungen Herren sei, die à tout prix auffallen wollen, sei es durch die grelle Farbe ihrer Hemden und Socken, sei es durch den anstößigen Exhibitionismus ihrer literarischen Beichten.
Poiret gehörte zu einer Gruppe von jungen französischen Künstlern — sie setzte sich nicht nur aus Autoren, sondern auch aus Malern und Komponisten zusammen —, die auf eine höchst gewagte und etwas verwirrende Art in ihrem Stil und in ihrer Gesinnung einen konsequenten, aggressiven Marxismus mit einem extremen Romantizismus zu vereinigen suchten. In den artistischen Manifestationen dieser Gruppe, der es wirklich gelang, das Juste Milieu sensationell vor den Kopf zu stoßen, begegneten sich die politischen Symbole von Hammer und Sichel mit allerlei geisterhaft Holdem und spukhaft Gräßlichem: widrig eiternden Wunden, zauberischen Blumen, flatternden Damen im Kostüm der Neunziger Jahre, obszönen Traum-Gebilden, verrenkten Gliedern, sonderbarsten Fratzen. Es war ein Kult des Häßlichen, Schokierenden und Grauenhaften, den die Gruppe trieb — eine Art von pervertiertem Ästhetizismus, dem es jedoch an moralischem Pathos nicht fehlte. Sie stellten die Welt auf den Kopf, verzerrten ihre Formen, trieben Schabernack mit ihren Gesetzen: weil sie den Zustand der Welt mißbilligten; weil sie sich für die totale Veränderung des Weltzustandes revolutionär einsetzen wollten. Hinter all dem Hexensabbath aus Traum und Polemik, aus Bitterkeit, rüdem Ulk, Trauer und Obszönität, verbarg — oder offenbarte sich die revolutionäre Hoffnung; ein fast naiver — und vielleicht mehr gewollter als eigentlich geglaubter materialistischer Optimismus; die mit religiöser Inbrunst krampfhaft festgehaltene Zuversicht, daß der Spuk vergehen, Qual, Angst und Fluch sich gnädig lösen werden, wenn das Wunder der wirtschaftlichen Um-Organisierung erst vollbracht, die Tat der sozialistischen Veränderung Ereignis geworden sein wird . . .