"Wir nähern uns einander an. Unsere Anwälte sind zuversichtlich." Er nahm einen zweiten Schluck.
"Das ist schön zu hören", meinte Rhea versonnen und schloss die Hände um die heiße Tasse, als wäre ihr kalt. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und fühlte sich dabei, als hätte er sie in eine warme Decke eingehüllt.
Nakoa war ihre große Liebe. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie das erkannte. Gemocht hatte sie den stillen Siebzehnjährigen ja schon, als er nach Darach Manor kam. Dass er ihr Teampartner geworden war, hatte sie gefreut, denn mit dem ein Jahr älteren Jungen zu arbeiten hatte sie sich schön vorgestellt.
Und dann war dieser verhängnisvolle Einsatz in dem alten Schloss gekommen. Da war ihr klargeworden, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Die Angst, ihm das nicht mehr sagen zu können, war unerträglich gewesen. Und der Gedanke, ihn zu verlieren, hatte ihr die Luft zum Atmen genommen.
Doch eines der geretteten Laborkinder, Tanyels Pflegesohn Mirek, besaß die Gabe des Heilens und er hatte es geschafft, Nakoas Gesundheit fast vollständig wiederherzustellen.
Sechs Jahre lag das zurück. Inzwischen war eine Menge passiert. Nakoa und sie würden heiraten. Das war beschlossene Sache. Aber erst wollte ihr Verlobter sein duales Studium beenden. Er steckte mitten in den Prüfungen und die wenigen Minuten, die er ihr schenkte, waren ihr kostbar.
"Woran denkst du?", fragte er leise und musterte sie.
Rhea starrte in ihre Tasse und lächelte wehmütig. "An diese Zeit damals, vor sechs Jahren."
"Was, immer noch?" Fast mitleidig schüttelte er den Kopf.
"Immer noch und immer wieder. Ich kann es nicht vergessen. Manchmal träume ich sogar davon. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst ich um dich hatte." Jetzt hob sie den Kopf und schaute ihn an. "Wenn ich dich vor mir sehe, dann muss ich mir immer wieder sagen, wieviel Glück ich habe. Dass du noch lebst und dass du dich wieder bewegen kannst. Und was du alles erreicht hast in dieser Zeit …" Sie schluckte und brach ab.
Er setzte die Tasse ab, stand auf und trat hinter ihren Sessel. "Du bist nicht der Einzige, der in dieser Zeit Angst hatte", sagte er ruhig und legte ihr die Hände auf die Schultern. "Ich bin froh, dass das Ganze damals mir passiert ist und nicht dir."
Er drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. "Auch ich hätte mir nicht vorstellen können dich zu verlieren."
Sie wandte den Kopf, um zu ihm hochzusehen. "La'ith macht sich heute noch Vorwürfe wegen damals."
"Ich weiß", meinte Nakoa schulterzuckend und ging zurück an seinen Schreibtisch. "Ich kann es ihm nicht ausreden." Zwischen ihm und dem verschlossenen Guardian herrschte ein eigenartiges Verhältnis. La'ith gab sich die Schuld, dass ihm dieses Gift damals fast zum Verhängnis geworden war. Und auch dass er wegen seiner geringen körperlichen Belastbarkeit kein Guardian mehr sein konnte, lastete La'ith sich an.
Nakoa wusste, dass das ständige Schuldgefühl dazu führte, dass Ahmads Bruder ihm bis heute aus dem Weg ging. "Ich würde La'ith ein wenig Freude in seinem Leben wünschen", meinte er, schob die Hände in die Hosentaschen und sah aus dem Fenster. "Und sei es nur, um ihn einmal lachen zu sehen."
Rhea war hinter ihn gekommen und schlang ihm die Arme um die Taille. "Ich würde auch dich gern öfter lachen sehen", sagte sie vorwurfsvoll und lehnte die Stirn an seinen Rücken. "Du bist viel zu ernst. Ich mache mir Sorgen, dass du dich von der Firma auffressen lässt."
Er drehte sich um und legte ihr die Arme um die Schultern, eine Geste, die sie an den Moment seiner Heimkehr von der Reha-Klinik erinnerte. Damals, nach den Monaten des Gelähmt-Seins, waren seine Bewegungen unbeholfen und steif gewesen. Trotzdem hatte er sie umarmt und sie damit unsagbar glücklich gemacht.
Seufzend schmiegte sie sich an ihn. "Ich brauche dich. Vergiss das nicht. Bitte pass auf dich auf."
"Versprochen."
Einen Augenblick blieben sie noch stehen, bis sie seine innere Unruhe spürte. Eine Viertelstunde für eine Tasse Kaffee gestand er sich zu, danach rief ihn die Arbeit zurück an den Schreibtisch.
Gegen den heftigen Drang ankämpfend, ihn weiter festzuhalten, löste sie ihre Arme von ihm und ging zu dem winzigen Tischchen. Als sie sich mit den Kaffeebechern in der Hand zur Tür wandte, saß er schon wieder in seinem Schreibtischstuhl und hatte den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Die kostbare Viertelstunde war um.
Lächelnd verließ sie das Büro.
"Was zum Donnerwetter ist los mit dir, Ethan?"
Hennak hatte sich neben dem Angesprochenen aufgebaut und stemmte die Arme in die Seiten. Das Wasser rann ihm aus den tropfnassen dunkelblonden Haaren über den nackten Oberkörper hinab und verschwand im Handtuch, das der Dreiundzwanzigjährige um die Hüften geschlungen hatte.
Yonas warf einen besorgten Blick zu den beiden, während er sich abtrocknete. Er hielt Hennak für ungeeignet, um Ethan dazu zu bringen, sein Verhalten zu überdenken. Der Angestellte bei einem Sicherheitsdienst besaß nicht das nötige Fingerspitzengefühl für solche Situationen, erst recht nicht, wenn Emotionen ins Spiel kamen.
Yonas hatte sich selber schon vorgenommen mit Brans Ziehbruder zu reden, bislang jedoch gezögert. Nun war ihm einer zuvorgekommen und der angehende Arzt befürchtete, dass Hennaks Wortwahl kein glücklicher Anfang war. Er hatte sich nicht getäuscht.
Ethan sah kurz auf und schenkte seinem Gegenüber einen geringschätzigen Blick. Man konnte deutlich sehen, dass er ihm nicht das Recht zugestand, ihn zu maßregeln.
"Nichts", knurrte er, drehte sich wieder um und rubbelte die feuchten Haare trocken. "Lass mich in Ruhe."
Bevor Hennak ihn am Arm packen konnte, weil er sich nicht so einfach abspeisen lassen wollte, mischte Yonas sich ein.
"Das ist Sadiks Angelegenheit", mahnte er. "Ethan hat Recht, lass ihn in Ruhe, Hennak."
Der Kamerad fuhr herum, um zu sehen, wer den einzigen Querschläger im Team zu verteidigte. Dabei bemerkte er Trajans langsames Kopfschütteln und schwieg. Ethan war es nicht wert, dass sie sich gegenseitig in die Haare gerieten. Früher oder später musste er merken, dass er mit so einem Verhalten seinen Platz im Team aufs Spiel setzte, denn was Yonas sagte, stimmte: Sadik würde sich das nicht mehr lange anschauen, ohne einzugreifen. Nach einem letzten, verächtlichen Blick auf Ethan, der sich inzwischen hingesetzt hatte, um sich anzuziehen, schüttelte er den Kopf und wandte sich ab.
"Wenn Hennak einmal richtig sauer ist, trau ich ihm durchaus zu, dass er Ethan eine reinhaut", raunte Bran, damit es außer Yonas neben ihm keiner hören konnte. Er hatte die Auseinandersetzung der beiden genauso besorgt verfolgt wie dieser, sich aber nicht eingemischt. Mit zunehmendem Unbehagen sah er, wie sein bester Freund sich veränderte. Ethan hatte kaum noch etwas gemeinsam mit dem freundlichen und stillen Jungen, der vor zehn Jahren zu ihnen ins Labor gebracht worden war.
Er selber war damals so froh gewesen, dass der Neue die Last, sich um die Jüngeren zu kümmern, ohne zu zögern mit ihm geteilt hatte. Damit war für ihn alles leichter geworden, erträglicher. Mit Ethan an seiner Seite hatte er sogar den Tod seines kleinen Bruders verkraften können. Aidan war in diesem Labor gestorben, ein Opfer der Versuche, die mit ihnen dort durchgeführt wurden. Er selbst, Ethan, und die drei kleineren Jungen hatten überlebt, genau wie die beiden Mädchen, Jala und Satu. Außer den zwei Jüngsten, Mirek und Satu, waren alle hier auf Darach Manor, manche noch, manche inzwischen wieder.
Die Freundschaft mit Ethan hatte deshalb einen hohen Stellenwert in Brans Leben. Er konnte unmöglich tatenlos zusehen, wie sich sein Ziehbruder mit seinem Verhalten aus der Gemeinschaft manövrierte. Machte er auf diese Art weiter, würde Ethan früher oder später erreichen, dass er aus dem Team geworfen wurde. Hennaks Frage war berechtigt gewesen. Was war los mit ihm?
"Eine