Tamira war eine der Lehrerinnen der Schule. Zu ihrem Lehrgebiet gehörte der Umgang mit psychischen Fähigkeiten wie Hypnose oder Telepathie. Sie trainierte die mentale Stabilität und Psyche aller Schüler, doch ihr Training war besonders wichtig für die Guardians und deren Anwärter.
Tiana lächelte wehmütig. Seit zwei Jahren war sie nicht mehr bei der Truppe. Frustriert hatte sie einsehen müssen, dass das Lehramt-Studium und die Arbeit für die Organisation ihr nicht genügend Zeit ließen für das immense Trainingspensum, das einem Guardian auferlegt war.
Jais, der neunzehnjährige, blonde Däne, hatte sie abgelöst und mit ihrem jüngeren Bruder Trajan das Team Blau gebildet, bis die Zweierteams aufgelöst wurden.
Schon während ihres Studiums war sie Tariqs Assistentin geworden, um den Schulleiter bei seiner weltweiten Suche nach begabten Kindern zu unterstützen. Er hatte ihr gezeigt, worauf sie im Internet zu achten hatte, und ihr die versteckten Hinweise und Codes erklärt, an denen sich die Personen mit einer besonderen Fähigkeit im Netz erkannten. Inzwischen erledigte sie das alles allein und Tamira half ihr, so oft sie Zeit fand.
'Tag' und 'Nacht' waren von Imara aus der Schule abgeholt worden und kamen vom Garagentrakt zum Haupthaus herüber, langsam, schlendernd. Satu plauderte und Jala hörte zu.
Die Spitznamen waren ihnen von den anderen gegeben worden, denn die beiden Mädchen konnten nicht gegensätzlicher sein.
Die vierzehnjährige Satu war Tag. Eigentlich lebte sie bei ihrer Tante in den Vereinigten Staaten. Aber diese war nach Weihnachten schwer erkrankt und hatte darum gebeten, das Mädchen bereits jetzt schon nach England an das Internat schicken zu können. Nach ihrer Befreiung aus dem Labor vor sechs Jahren war die Siebenjährige zu ihrer Tante gekommen, doch ihre Aufnahme an der Schule für den Herbst des kommenden Jahres hatte bereits festgestanden. Imara, die sich darauf freute, Satu wiederzusehen, hatte eingewilligt, sich um sie zu kümmern.
Satu war ein Teenager, den jeder als bildhübsch bezeichnete, und ein wahrer Sonnenschein. Sie verbreitete pure Lebensfreude. In ihrer Nähe fiel es schwer, Groll zu hegen oder Bitterkeit zu empfinden. Sie trug stets farbenfrohe Kleidung, am liebsten T-Shirts und weite Latzjeans, und ihr langes, blondes Haar war immer offen. Sie lachte viel, konnte gut zuhören und schien einfach unfähig in anderen etwas Böses zu sehen.
Jala hingegen war dunkel. In jeder Beziehung. Man konnte die achtzehnjährige gebürtige Irakerin nicht schön nennen und sie wusste es. Makeup und Frisur waren ihr völlig gleich, obwohl gerade in ihrem Alter Mädchen viel Wert darauf legten. Das machte sie zum Außenseiter in ihrer Klasse. Doch es störte sie nicht. Ihr lag nichts an Freundschaften mit den Mädchen, die mit ihr zur Schule gingen, denn die erschienen ihr allesamt oberflächlich, falsch und albern. Am liebsten hatte es Jala, wenn man sie in Ruhe ließ.
Ihre Gestalt war knochig und nicht fraulich, mit einer kaum erkennbaren Brust und einem Becken, so schmal wie das eines Jungen. All das war sowieso nicht zu sehen, denn zum Leidwesen ihrer Pflegemutter Imara trug sie T-Shirts, die ihr mindestens zwei Nummern zu groß waren, und grundsätzlich dunkle Kleidung, am liebsten schwarz oder grau. Von derselben Farbe war auch das Basecap, unter dem sie ihre wilde, nachtschwarze Mähne verbarg,
Was an Jala aber am meisten verstörte, waren ihre Augen. In der Regel hielt sie den Blick gesenkt. Aber wenn sie ihn einmal hob und jemanden direkt ansah, dann hatte derjenige den Eindruck, dass sie ihm bis auf den tiefsten Grund der Seele blicken konnte. Durchdringend, bohrend und alles erkennend. Es war unangenehm, von ihr angeschaut zu werden, und nicht jeder konnte ihrem Blick standhalten. Ihre tiefdunklen Augen unter den langen schwarzen Wimpern verstärkten den Effekt noch.
Aber Jala war nicht nur dunkel, sie war auch still. Nie mischte sie sich in Gespräche ein, nie gab sie ungefragt ihre Meinung preis. Im Unterricht musste sie aufgefordert werden, zu reden, und bei Einsatzbesprechungen hörte sie generell nur zu.
Wenn die zwei Mädchen zusammen unterwegs waren, traten die gegensätzlichen Wesen der beiden besonders deutlich hervor. So wie jetzt gerade.
Eben seufzte Satu, blieb stehen und hielt ihr Gesicht selig lächelnd der Sonne entgegen. "Ich liebe den Sommer in England!", seufzte sie und breitete die Arme aus, als wollte sie jemanden umarmen.
Jala hatte ihr nur einen kurzen Blick zugeworfen und war weitergegangen. Ihr schwarzer Rucksack baumelte an einem Träger über der Schulter. "Ich habe Hunger", meinte sie lakonisch. "Lass uns zu Kareem gehen." Und ohne sich zu vergewissern, dass Satu ihr folgte, betrat sie durch den Wirtschaftseingang das Haus.
Drinnen war es angenehm kühl nach der sommerlichen Wärme draußen. Ihre Schritte hallten auf den Bodenfliesen und als sie ins kleine Foyer kam, umfingen sie die vertrauten Düfte. Wie immer roch es nach altem Gemäuer und dem Öl, mit dem die Leute vom Housekeeping Service die dunkle Holzvertäfelung pflegten.
Draußen vor dem Haus konnte sie Satus Stimme hören. Die Schulleiterin war kurz vor ihnen um die Hausecke gekommen und musste sich nun wahrscheinlich anhören, wie schön das Leben war.
Man konnte es kein Lächeln nennen, aber ein wenig hob sich Jalas Mundwinkel bei dem Gedanken daran.
Als sie in dem engen Korridor zur Teeküche abbiegen wollte, stieß sie mit jemandem zusammen. Der Rucksack rutschte von der Schulter und fiel zu Boden.
"Oh, tut mir leid", hörte sie eine überraschte Stimme. Noch bevor sie sich bücken konnte, hatte die angerempelte Person schon den Rucksack aufgehoben. Obwohl es ziemlich dämmrig in dem dunklen Korridor war, erkannte sie ihn an seinem weißen T-Shirt. Es war Ethan.
"Danke", antwortete sie leise und nahm ihm den Träger aus der Hand, um ihn sich wieder auf die Schulter zu schieben. "Nichts passiert."
Sie trat zur Seite, damit er vorbeigehen konnte, doch er blieb stehen.
"Ich wollte eben zu Kareem … und fragen, ob er noch was zu essen hat. Du bist doch auch grad gekommen. Magst du … vielleicht mitkommen?"
Er schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und sah sie fragend an. Es ließ seine Schultern ungeheuer breit aussehen, doch das war ihm sicher nicht bewusst.
Jala brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass er tatsächlich sie gefragt hatte. Eigentlich wollte sie ablehnen, denn Ethan gehörte nicht unbedingt zu denen, deren Gesellschaft ihr angenehm war. Andererseits hatte sie ja tatsächlich Hunger. Nach kurzem Zögern nickte sie und wandte sich der Küchentür zu. Ethans Gesichtsausdruck konnte sie so nicht mehr sehen.
Tanyel ließ das schwere Eingangsportal hinter sich ins Schloss fallen. Eine laue Windbö wirbelte Wolken aus gelbem Blütenstaub von den Jasminbüschen vor dem Haus auf und zerzauste ihm die blonden Haare. Oben im ersten Stock hörte er durch das geöffnete Fenster Stimmen. Der Sechsundvierzigjährige sah auf die Uhr. Es war fast zwei, Tamiras Unterricht würde gleich beginnen.
Pfeifend machte er sich auf den Weg zum Gesindehaus. In früheren Zeiten, als Darach Manor der Wohnsitz der altehrwürdigen Henley-Familie war, hatte das Dienstpersonal in dem Gebäude gewohnt. Heute lebten die zum Internat gehörigen Jungen darin. Es war lange nicht genutzt worden und dementsprechend verfallen gewesen.
Vor sechs Jahren musste der ehemalige Aufenthalts- und Speiseraum im Erdgeschoss binnen eines Tages bewohnbar gemacht werden. Die Guardians hatten in einer Mission sieben eingesperrte Kinder mit besonderen Fähigkeiten gerettet, zwei Mädchen und fünf Jungen. Letztere waren vorerst dort untergebracht worden.
Bran, einer von ihnen, kam ihm gerade entgegen. Er war inzwischen ein junger Mann mit hellbraunen Haaren, eher weichen Gesichtszügen und freundlichen graugrünen Augen geworden.
"Ich fahre in die Stadt, Tanyel, brauchst du was?", rief er herüber und klimperte mit dem Autoschlüssel.
Der Steward schüttelte lächelnd den Kopf. "Ich muss dann selbst nochmal los, danke."
Er winkte ihm zu und der Zwanzigjährige drehte sich um und verschwand in Richtung der Garagen.
Bran und Ethan waren