Wie man nun auf Grund ihrer sittlichen Beschaffenheit bei den einen vom Adel des Wesens, bei den anderen von rühmlicher Wirksamkeit spricht, so geschieht es auch auf Grund des Freundschaftsverhältnisses. Die einen genießen das Glück des Zusammenlebens und tun sich gegenseitig alles Gute an; die andern mögen im Schlaf oder bei räumlicher Trennung nicht füreinander tätig sein: sie sind doch gegeneinander so gesinnt, daß sie sich im Sinne der Freundschaft zu betätigen herzlich gern bereit wären. Räumliche Entfernung steht also nicht der Freundesgesinnung an und für sich, sondern nur ihrer Betätigung im Wege. Dauert die Entfernung längere Zeit, so sieht man allerdings wohl eine Abschwächung der Freundschaftsgesinnung eintreten. Darum heißt es:
»Freundschaft lockert sich oft, wo Austausch fehlt des Gespräches.«
Es läßt sich ferner beobachten, daß weder Leute in höheren Jahren noch verdrießliche Leute zur Freundschaft geneigt sind. Denn das Interesse am Angenehmen kommt bei ihnen zu kurz, und niemand bringt es fertig, immerfort mit solchem zu leben was Verdruß oder was auch nur kein Vergnügen bereitet. Denn die Natur treibt augenscheinlich dazu, zu meiden, was Verdruß, und zu begehren, was Vergnügen macht. Das Verhältnis zwischen Leuten, die aneinander ein Wohlgefallen haben, aber nicht zusammenleben, trägt mehr die Züge des Wohlwollens als die der Freundschaft. Denn nichts ist Freunden so eigen, als miteinander zu leben. Beistand begehren diejenigen, die dessen bedürftig sind, Beisammensein auch die, die mit allem versehen sind. Vereinsamt zu sein, sagt gerade den letzteren am wenigsten zu. Man kann aber nicht Tag für Tag zusammen sein, wenn einer dem anderen kein Vergnügen macht und beide nicht an denselben Dingen ihre Freude haben; denn dies bildet den Grundzug aller kameradschaftlichen Gemeinschaft.
Freundschaft im höchsten Sinne ist also, wie wir wiederholt gesagt haben, die zwischen Edelgesinnten. Denn Gegenstand der Liebe und des Begehrens ist das, was an und für sich, und für den einzelnen das, was für ihn gut und erfreulich ist; für den Edelgesinnten ist es aus beiden Gründen der Edelgesinnte. Die persönliche Zuneigung trägt zunächst den Charakter des Gefühls, die Freundschaft den einer befestigten Gesinnung. Denn Neigung empfindet man ebensosehr für leblose Dinge; dagegen ist Erwiderung der Neigung Sache des Willens, und der Wille stammt aus befestigter Gesinnung. Denen, die man liebt, wünscht man alles Gute um ihrer selbst willen, nicht aus einem bloßen Gefühle, sondern aus einer Gesinnung heraus, und wer den Freund liebt, liebt, was für ihn selbst ein Gut ist; denn der Edle, den man zum Freunde gewonnen hat, wird ein Gut für den, dessen Freund er ist. So liebt denn jeder von beiden das, was für ihn ein Gut ist, und vergilt gleiches mit gleichem durch den Wunsch, den er hegt, wie durch das Glück, das er bereitet. Freundschaft bezeichnet man als Gleichheit, und dies gilt am meisten von der Freundschaft zwischen Edelgesinnten.
Bei verdrießlichen und bei bejahrten Leuten kommen Freundschaftsverhältnisse desto weniger zustande, je übler ihre Laune ist und je weniger sie Freude am Umgang mit anderen haben. Denn solche Freude am Umgang ist freundschaftlicher Verbindung am meisten förderlich und geeignet, solche Verbindung zu stiften. Daher kommt es, daß junge Leute sich schnell befreunden, bejahrte Leute nicht; denn man schließt nicht Freundschaft mit solchen, an denen man keine Freude hat. Das gleiche gilt von den verdrießlichen Leuten; doch können solche ganz gut für einander Wohlwollen hegen. Sie wünschen einander Gutes und leisten Beistand wo es nottut; aber Freunde sind sie doch nicht eigentlich, weil sie weder dauernd zusammenleben, noch aneinander Freude haben, was für die Freundschaft das dringendste Erfordernis ist.
Mit vielen Freundschaft zu pflegen im Sinne der vollkommensten Freundschaft geht nicht wohl an, wie man ja auch nicht zu vielen zugleich in einem Liebesverhältnis stehen kann; denn solche Freundschaft hat die Art eines höchsten Grades, und dergleichen kann eigentlich nur einem gegenüber statt haben. Andererseits ist es nicht leicht der Fall, daß einem mehrere zugleich in hohem Grade lieb sind, und es ist auch das nicht leicht, vielen Edlen zu begegnen. Man muß überdies Erfahrung haben und in langem Umgange beisammen sein, und das ist sehr schwierig. Dagegen ist es, wo es bloß Vergnügen und Vorteil gilt, wohl möglich, vielen zu gefallen. Denn Leute, die dergleichen gewähren, kommen häufiger vor, und diese Art von Leistungen bedarf auch nicht langer Zeit. Unter diesen beiden Verhältnissen nun hat dasjenige, das in der Aussicht auf Vergnügen wurzelt, zur Freundschaft größere Verwandtschaft, falls beide Teile einander wechselseitig das gleiche Vergnügen bereiten und es auch dieselben Dinge sind, durch die sie einander Freude machen.
Von dieser Art sind die Jugendfreundschaften. Bei ihnen kommt mehr eine ideale Gesinnung zum Ausdruck; Freundschaft, die der Vorteil stiftet, zeugt dagegen von Krämersinn. Wohlversehene Leute haben kein Bedürfnis nach solchen, die Vorteil, sondern nach solchen, die Vergnügen verheißen. Denn sie wünschen sich Gesellschaft; aber was verdrießlich stimmt, erträgt man wohl einige Zeit; auf die Dauer dagegen hält das kein Mensch aus, und wenn es auch die Idee des Guten selber wäre, die einen ärgert. Darum suchen sie sich lieber Freunde, die ihnen angenehme Empfindungen erwecken. Solche müssen natürlich mit dieser Eigenschaft auch eine edle Gesinnung verbinden und sich ihnen so bewähren; so erst werden sie alle Eigenschaften haben, die man bei Freunden sucht.
Leute in Macht- und Herrscherstellung sieht man zwischen Freunden und Freunden unterscheiden. Die einen sind ihnen brauchbar, die andere Klasse dient ihnen zur Unterhaltung; daß beides zusammenfällt, kommt nicht leicht vor. Sie suchen nach Leuten zu ihrer Ergetzung, / diese aber brauchen nicht solche von sittlicher Gesinnung zu sein, / und nach brauchbaren Leuten, / diese aber müssen nicht gerade zu edlen Zwecken dienen; sondern insofern sie es auf Ergetzung absehen, suchen sie unterhaltende geistreiche Leute, und andererseits solche, die gewandt sind, ein aufgetragenes Geschäft auszuführen; dies beides aber trifft nicht leicht in derselben Persönlichkeit zusammen.
Freude und Vorteil zugleich, haben wir gesagt, gewährt ein Mensch von ernstem sittlichen Charakter. Leider nur gewinnt sich der Mensch in überragender Stellung solche Leute nicht zu Freunden, wenn er sie nicht auch in sittlicher Gesinnung überragt. Ist das nicht der Fall, so ist zwischen dem Mann von edler Gesinnung und dem Manne von überragender Macht keine Gleichheit hergestellt; denn dazu müßte das Übergewicht an Macht dem Übergewicht an edlen Eigenschaften entsprechen. Es ist aber nicht gerade die Regel, daß Machthaber solche Charakterzüge an sich tragen.
Die Freundschaftsverhältnisse, von denen wir bisher gesprochen haben, beruhen auf Gleichheit. Beide Teile leisten und wünschen einander eins und dasselbe, oder sie tauschen miteinander das eine für das andere aus, etwa gewahrtes Vergnügen gegen empfangenen Vorteil. Daß diese letzteren Arten der Befreundung weniger eng und dauerhaft sind, haben wir bereits dargelegt. Man darf sagen: wegen der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit, die sie mit der wahren Freundschaft haben, sind sie einerseits Freundschaftsverhältnisse, und andererseits sind sie es wieder nicht. Auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit der auf sittlicher Gesinnung beruhenden Freundschaft stellen sie sich als Freundschaftsverhältnisse dar; das eine Mal gewähren sie Ergetzung, das andere Mal Vorteil, wie ja beides auch bei jener der Fall ist. Dadurch aber daß die eine Art nicht durch Verhetzung trennbar und daß sie dauerhaft ist, diese letzteren aber schnell vergehen, und auch sonst durch eine Menge von Unterschieden, zeigen sie, daß sie doch keine rechten Freundschaftsverhältnisse sind, und zwar um der Unähnlichkeit willen, die zwischen ihnen und jenen obwaltet.
Nun gibt es aber weiter eine zweite Art von Verhältnissen der Befreundung, die sich durch die Überlegenheit des einen Teils über den anderen kennzeichnet; das ist der Fall zwischen Vater und Sohn und überhaupt zwischen dem Älteren und Jüngeren, zwischen Mann und Weib, und allgemein zwischen dem Herrschenden und dem Untergebenen. Auch in diesen Verhältnissen muß man aber noch weiter unterscheiden.
Es ist nicht dasselbe Verhältnis, das zwischen Eltern und Kindern, und das zwischen Herrschenden und Untergebenen; aber es ist auch das Verhältnis vom Vater zum Sohn nicht dasselbe wie das des Sohnes zum Vater, das Verhältnis des Mannes zum Weibe nicht dasselbe wie das des Weibes zum Manne. Denn bei jeder von dieser Persönlichkeiten ist die sittliche Beschaffenheit und Aufgabe eine andere, und eine andere auch der Grund der