Erlanget nun dieses vernünftige Geschöpf erst wahre Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften, o! welch ein kühner Schritt zu einer höhern Vollkommenheit! Aus der Gemeinschaft mit dem Nebengeschöpfe tritt er in eine Gemeinschaft mit dem Schöpfer, erkennet das Verhältniß, in welchem er, das ganze menschliche Geschlecht, alles Lebendige und alles Leblose, mit diesem Urheber und Erhalter des Ganzen stehen; die große Ordnung von Ursachen und Wirkungen in der Natur wird ihm nunmehr auch zu einer Ordnung von Mitteln und Absichten; was er bisher auf Erden genossen, ward ihm wie aus den Wolken zugeworfen: nunmehr zertheilen sich diese Wolken, und er siehet den freundlichen Geber, der ihm alle diese Wohlthaten hat zufließen lassen. Was er an Leib und an Gemüthe für Eigenschaften, Gaben und Geschicklichkeiten besitzet, erkennet er als Geschenke dieses gütigen Vaters; alle Schönheit, alle Harmonie, alles Gute, alle Weisheit, Vorsicht, Mittel und Endzwecke, die er bisher in der sichtbaren und unsichtbaren Welt erkannt, betrachtet er als Gedanken des Allerweisesten, die er ihm in dem Buche der Schöpfung zu lesen gegeben, um ihn zur höhern Vollkommenheit zu erziehen. Diesem liebreichen Vater und Erzieher, diesem gnädigen Regenten der Welt heiliget er zugleich alle Tugenden seines Herzens, und sie gewinnen in seinen Augen einen göttlichen Glanz, da er weiß, daß er durch sie, und durch sie allein dem Allgütigen wohlgefallen kann. Die Tugend allein führet zur Glückseligkeit, und wir können dem Schöpfer nicht anders wohlgefallen, als wenn wir nach unserer wahren Glückseligkeit streben. Welch eine Höhe hat der Mensch in dieser Verfassung auf Erden erreichet! Betrachtet ihn, meine Freundet den wohlgesinnten Bürger im Staate Gottes, wie alle seine Gedanken, Wünsche, Neigungen und Leidenschaften unter sich harmoniren, wie sie alle zum wahren Wohlseyn des Geschöpfes, und zur Verherrlichung des Schöpfers abzielen! O! wenn die Welt nur ein einziges Geschöpf von dieser Vollkommenheit aufzuweisen hätte, wollten wir anstehen, in diesem Nachahmer der Gottheit, in diesem Gegenstande des göttlichen Wohlgefallens, den letzten Endzweck der Schöpfung zu suchen?
Zwar treffen alle Züge dieses Gemäldes nicht den Menschen überhaupt, sondern nur wenige Edle, die eine Zierde des menschlichen Geschlechts sind; allein dieses mag allenfalls die Grenzlinie seyn zwischen Menschen und höhern Geistern. Genug, daß sie alle zu derselben Klasse gehören, und ihr Unterschied mir in dem Mehr und Weniger bestehet. Vom unwissendsten Malerischen bis zum vollkommensten unter den erschaffenen Geistern, haben alle die der Weisheit Gottes so anständige, und ihren eignen Kräften und Fähigkeiten so angemessene Bestimmung, sich und andere vollkommener zu machen. Dieser Pfad ist ihnen vorgezeichnet, und der verkehrteste Wille kann Niemanden ganz davon abführen. Alles, was lebt, und denkt, kann nicht unterlassen, seine Erkenntniß und seine Begehrungskräfte zu üben, auszubilden, in Fertigkeiten zu verwandeln, mithin mehr oder weniger, mit stärkern oder schwächern Schritten sich der Vollkommenheit zu nähern. Und dieses Ziel, wann wird es erreicht? Wie es scheinet niemals so völlig, daß der Weg zu einem fernern Fortgange versperrt seyn sollte: indem erschaffene Naturen niemals eine Vollkommenheit, über welche sich nichts gedenken ließe, erreichen können. Je höher sie klimmen, desto mehr ungesehene Fernen entwölken sich ihren Augen, die ihre Schritte anspornen. Das Ziel dieses Bestrebens bestehet, wie das Wesen der Zeit, in der Fortschreitung. Durch die Nachahmung Gottes kann man sich allmählig seinen Vollkommenheiten nähern, und in dieser Näherung bestehet die Glückseligkeit der Geister; aber der Weg zu denselben ist unendlich, kann in Ewigkeit nicht ganz zurück geleget werden. Daher kennet das Fortstreben in dem menschlichen Leben keine Grenzen. Eine jede menschliche Begierde zielet an und für sich selbst in die Unendlichkeit hinaus. Unsere Wissensbegierde ist unersättlich, unser Ehrgeiz unersättlich, ja der niedrige Geldgeiz selbst quälet und beunruhiget, ohne jemals befriediget werden zu können. Die Empfindung der Schönheit suchet das Unendliche; das Erhabene reizet uns bloß durch das Unergründliche, das ihm anhänget: die Wollust ekelt uns, so bald sie die Grenzen der Sättigung berühret. Wo wir Schranken sehen, die nicht zu übersteigen sind, da fühlet sich unsere Einbildungskraft wie in Fessel geschmiedet, und die Himmel selbst scheinen unser Daseyn in gar zu enge Räume einzuschließen: daher wir unsrer Einbildungskraft so gern den freyen Lauf lassen, und die Grenzen des Raumes ins unendliche hinaus setzen. Dieses endlose Bestreben, das sein Ziel immer weiter hinausstreckt, ist dem Wesen, den Eigenschaften, und der Bestimmung der Geister angemessen, und die wundervollen Werke des Unendlichen enthalten Stoff und Nahrung genug, dieses Bestreben in Ewigkeit zu unterhalten: je mehr wir in ihre Geheimnisse eindringen, desto weitere Aussichten thun sich unsern gierigen Blicken auf; je mehr wir ergründen, desto mehr finden wir zu erforschen; je mehr wir genießen, desto unerschöpflicher ist die Quelle.
Wir können also, fuhr Sokrates fort, mit gutem Grunde annehmen, dieses Fortstreben zur Vollkommenheit, dieses Zunehmen, dieser Wachsthum an innerer Vortrefflichkeit sey die Bestimmung vernünftiger Wesen, mithin auch der höchste Endzweck der Schöpfung. Wir können sagen, dieses unermeßliche Weltgebäude sey hervorgebracht worden, damit es vernünftige Wesen gebe, die von Stufe zu Stufe fortschreiten, an Vollkommenheit allmählig zunehmen, und in dieser Zunahme ihre Glückseligkeit finden mögen. Daß diese nun sämtlich mitten auf dem Wege stille stehen, nicht nur stille stehen, sondern auf einmal in den Abgrund zurück gestoßen werden, und alle Früchte ihres Bemühens verlieren sollten, dieses kann das allerhöchste Wesen unmöglich beliebet, und in den Plan des Weltalls gebracht haben, der ihm vor allen wohlgefallen hat. Als einfache Wesen sind sie unvergänglich; als für sich bestehende Naturen sind auch ihre Vollkommenheiten fortdaurend und von unendlichen Folgen; als vernünftige Wesen streben sie nach einem unaufhörlichen Wachsthum und Fortgang in der Vollkommenheit: die Natur bietet ihnen zu diesem endlosen Fortgange hinlänglichen Stoff dar; und als letzter Endzweck der Schöpfung können sie keiner andern Absicht nachgesetzt, und deswegen im Fortgange oder Besitze ihrer Vollkommenheiten vorsetzlich gestört werden. Ists der Weisheit anständig, eine Welt deswegen hervorzubringen, damit die Geister, die sie hineinsetzt, ihre Wunder betrachten, und glückselig seyn mögen, und einen Augenblick darauf diesen Geistern selbst die Fähigkeit zur Betrachtung und Glückseligkeit auf ewig zu entziehen? Ists der Weisheit anständig, ein Schattenwerk der Glückseligkeit, das immer kömmt und immer vergehet, zum letzten Ziel ihrer Wunderthaten zu machen? O nein, meine Freunde! nicht umsonst hat uns die Vorsehung ein Verlangen nach ewiger Glückseligkeit eingegeben: es kann und wird befriedigst werden. Das Ziel der Schöpfung dauert so lange, als die Schöpfung, die Bewunderer göttlicher Vollkommenheiten so lange, als das Werk, in welchem diese Vollkommenheiten sichtbar sind. So wie wir hienieden dem Regenten der Welt dienen, indem wir unsere Fähigkeiten entwickeln: so werden wir auch in jenem Leben unter seiner göttlichen Obhut fortfahren, uns in Tugend und Weisheit zu üben, uns unaufhörlich vollkommener und tüchtiger zu machen, die Reihe der göttlichen Absichten zu erfüllen, die sich von uns hin in das Unendliche erstreckt. Irgendwo auf diesem Wege stille stehen, streitet offenbar mit der göttlichen Weisheit, Gütigkeit oder Allmacht, hat, so wenig als das allerhöchste Elend unschuldiger Geschöpfe, von dem vollkommensten Wesen bey dem Entwurfe des Weltplans beliebet werden können.
Wie beklagenswerth ist das Schicksal eines Sterblichen, der sich durch unglückliche Sophistereyen um die tröstliche Erwartung einer Zukunft gebracht hat! Er muß über seinen Zustand nicht nachdenken, und wie in einer Betäubung dahin leben, oder verzweifeln. Was ist der menschlichen Seele schrecklicher, als die Zernichtung? und was elender, als ein Mensch, der sie mit starken Schritten auf sich zukommen siehet, und in der trostlosen Furcht, mit der er sie erwartet, sie schon vorher zu empfinden glaubet? Im Glücke schleicht sich der entsetzliche Gedanke vom Nichtseyn zwischen die wollüstigsten Vorstellungen, wie eine Schlange zwischen Blumen, und vergiftet den Genuß des Lebens; und im Unglücke schlägt er den Menschen ganz hoffnungslos zu Boden, indem er ihm den einzigen Trost verkümmert, der das Elend versüßen kann, die Hoffnung einer bessern Zukunft. Ja der Begriff einer bevorstehenden Zernichtung streitet so sehr wider die Natur der menschlichen Seele, daß wir ihn mit seinen nächsten Folgen nicht zusammen