Lange Schatten. Louise Penny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Gamache
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701279
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in den Wäldern.

      »Ich wollte mich vor dem Familientreffen ausruhen, endlich wieder zu Atem kommen. Ich bin gern für mich allein. Das habe ich vermisst.«

      »Verstehe«, sagte er. Und das tat er. »Aber eines begreife ich nicht.«

      »Ja?« Sie klang wachsam, wie eine Frau, die es gewohnt war, dass ihr allzu persönliche Fragen gestellt werden.

      »Peters praller pinker Pickel platzt?«

      Sie lachte. »Das ist so ein Spruch aus unserer Kindheit.«

      Auf einer Hälfte ihres Gesichts spielte das goldene Licht aus dem Manoir. Die beiden standen schweigend da und sahen zu, wie die Leute von Zimmer zu Zimmer gingen. Es war fast so, als würden sie einer Theateraufführung beiwohnen. Die Bühne erleuchtet und für verschiedene Szenen verschiedene Kulissen, durch die sich die Schauspieler bewegten.

      Er sah wieder zu seiner Gesprächspartnerin und wunderte sich. Warum war der Rest der Familie im Haus und sie hier draußen im Dunkeln, allein, und beobachtete sie?

      Sie hatten sich im Salon mit der hohen Holzdecke und den edlen Möbeln versammelt. Mariana ging gerade zum Klavier, wurde aber von Madame Finney wieder verscheucht.

      »Die arme Mariana.« Julia lachte. »Es ändert sich doch nie etwas. Magilla kommt nie dazu zu spielen. Thomas ist der Musiker in der Familie, so wie mein Vater. Er war sehr talentiert.«

      Gamache ließ seinen Blick zu dem alten Mann auf dem Sofa wandern. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die gichtigen Hände gefällige Klänge hervorbrachten, aber wahrscheinlich waren sie ja nicht immer so verkrüppelt gewesen.

      Thomas setzte sich auf die Klavierbank, hob die Hände und schickte sich an, die Nachtluft mit einer Melodie von Bach zu erfüllen.

      »Er spielt wunderschön«, sagte Julia. »Das hatte ich ganz vergessen.«

      Gamache stimmte ihr zu. Durchs Fenster sah er, wie Reine-Marie Platz nahm und ein Kellner zwei Espressi und zwei Gläser Cognac vor sie stellte. Er wollte zurück ins Haus.

      »Es fehlt übrigens noch einer von uns.«

      »Ach?«

      Sie hatte versucht, es zu verbergen, aber Gamache war der Unterton in ihrer Stimme nicht entgangen.

      Reine-Marie rührte ihren Espresso um und hatte den Kopf dem Fenster zugewandt. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. Da sie im Licht saß, sah sie mit Sicherheit nur die Spiegelung des Zimmers in der Scheibe.

      Hier bin ich, flüsterte seine Seele. Hier drüben.

      Sie drehte den Kopf ein wenig weiter, sodass ihre Augen direkt auf ihn gerichtet waren.

      Das war natürlich Zufall. Aber der Teil von ihm, der auf die Vernunft nicht viel gab, war überzeugt, dass sie ihn gehört hatte.

      »Morgen kommt Spot, mein jüngerer Bruder. Er bringt wahrscheinlich seine Frau Claire mit.«

      Es war das erste Mal, dass er Julia Martin etwas sagen hörte, das nicht freundlich oder nett war. An den Worten lag es jedoch nicht, sie waren neutral. Der Ton war verräterisch.

      Er war voller Angst.

      Sie kehrten zum Manoir Bellechasse zurück, und als Gamache Julia Martin die Tür aufhielt, fiel sein Blick erneut auf den Marmorblock am Waldrand. Er konnte nur eine Ecke davon sehen, aber plötzlich wusste er, woran er ihn erinnerte.

      An einen Grabstein.

      3

      Pierre Patenaude drückte die Schwingtür zur Küche in dem Augenblick auf, als drinnen lautes Gelächter ertönte. Kaum war er eingetreten, hörte es schlagartig auf, und er fragte sich, was ihn mehr ärgerte, das Lachen oder sein unvermitteltes Abbrechen.

      Elliot stand in der Mitte des Raums, eine Hand auf die schmale Hüfte gestützt, die andere leicht erhoben, der gestreckte Zeigefinger in der Luft erstarrt, mit einem begehrlichen und zugleich säuerlichen Ausdruck im Gesicht. Er äffte außerordentlich treffend einen der Gäste nach.

      »Was ist hier los?«

      Pierre konnte den strengen, missbilligenden Ton in seiner Stimme selbst nicht leiden. Und er konnte den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht leiden. Furcht. Außer auf dem von Elliot. Der wirkte zufrieden.

      Das Personal hatte sich noch nie vor ihm gefürchtet, und es gab auch keinen Grund, warum sie es jetzt tun sollten. Es lag nur an diesem Elliot. Vom ersten Tag an hatte er die anderen gegen den Maître d’ aufgewiegelt. Er spürte es. Dass auf einmal nicht mehr alle Fäden bei ihm zusammenliefen und er sich wie ein Außenseiter im Manoir vorkam.

      Wie hatte der junge Mann das nur geschafft?

      Im Grunde wusste Pierre es genau. Elliot hatte die schlimmsten Seiten an ihm zum Vorschein gebracht, hatte ihn verhöhnt, sämtliche Regeln übertreten und Pierre dazu gezwungen, den Zuchtmeister zu spielen, der er gar nicht war. Die anderen jungen Leute waren alle lernwillig, sie waren bereit, zuzuhören und sich etwas beibringen zu lassen, sie waren dankbar für den geregelten Tagesablauf und die Führung durch den Maître d’. Er brachte ihnen bei, die Gäste zu respektieren, höflich und freundlich zu sein, selbst wenn man sie schikanierte. Er erklärte ihnen, dass die Gäste gutes Geld dafür bezahlten, verwöhnt zu werden, aber es ging noch um mehr. Sie kamen ins Manoir, damit sich jemand um sie kümmerte.

      Pierre fühlte sich manchmal wie ein Arzt in der Notaufnahme. Die Leute strömten durch die Tür, Opfer des Stadtlebens, niedergedrückt von der Bürde des Alltags. Zu viele Forderungen, zu wenig Zeit, zu viele Rechnungen, E-Mails, Meetings, Telefonate, zu wenig Dankbarkeit und viel zu viel, wirklich viel zu viel Druck – das alles hatte sie gebrochen. Er erinnerte sich, wie erschöpft sein Vater immer aus dem Büro nach Hause gekommen war, völlig geschafft.

      Sie verrichteten im Manoir Bellechasse keine niedrigen Arbeiten, das wusste Pierre. Diese Arbeit war ehrenvoll und wichtig. Sie sorgten dafür, dass Leute geheilt wurden. Wobei manche natürlich schwerer verletzt waren als andere.

      Nicht jeder eignete sich für diese Art Arbeit.

      Elliot zum Beispiel.

      »Ich habe nur Spaß gemacht.«

      Das sagte Elliot, als wäre es das Normalste von der Welt, mitten in der engen, vollbesetzten Küche zu stehen und die Gäste nachzuäffen, und der Maître d’ wäre derjenige, der nicht ganz normal war. Pierre spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Er sah sich um.

      Die große, alte Küche bot sich als Treffpunkt für das Personal an. Selbst die Gärtner waren da, aßen Kuchen und tranken Tee und Kaffee. Und sahen zu, wie er sich von einem Neunzehnjährigen demütigen ließ. Pierre sagte sich, dass Elliot noch jung sei. Aber das hatte er sich schon so oft gesagt, dass es seine Bedeutung verloren hatte.

      Er wusste, dass er es aufgeben sollte.

      »Du hast unsere Gäste lächerlich gemacht.«

      »Nur einen. Außerdem macht sich die Frau doch selbst total lächerlich. Entschuldigen Sie, aber ich glaube, er hat mehr Kaffee als ich bekommen. Entschuldigen Sie, aber ist das wirklich der beste Platz? Ich habe ausdrücklich um den besten Platz gebeten. Entschuldigen Sie, ich will mich gewiss nicht beschweren, aber ich habe vor Ihnen bestellt. Wo bleiben meine Selleriestangen?«

      Einen Moment lang ging ein Kichern durch die gemütliche Küche.

      Er hatte sie sehr gut nachgeahmt. Trotz seiner Wut erkannte der Maître d’ Sandra Morrows glattzüngig vorgebrachte Klagen sofort wieder. Nie war sie zufrieden. Elliot mochte kein guter Kellner sein, aber er besaß eine geradezu unheimliche Fähigkeit, die Fehler anderer aufzudecken. Und sie zu vergrößern. Und sich über sie lustig zu machen. Diese Begabung fand allerdings nicht jeder attraktiv.

      »Sehen Sie mal, wen ich draußen gefunden habe!«, rief Julia, als sie in den Salon traten.

      Reine-Marie lächelte und stand auf, um ihrem Mann einen Kuss zu geben und ihm einen bauchigen Cognacschwenker zu reichen. Die