»Lass mich los«, jammerte Bean und wand sich in seinen Armen, als ginge die Gefahr von Peter aus. Mit weit aufgerissenen Augen blickte das erschrockene Kind zurück zum Manoir.
Inzwischen näherten sich von verschiedenen Seiten die Morrows, die Finneys und einige der jungen Leute vom Personal, die der Gärtnerin gefolgt waren.
»Wovor läufst du denn weg, Bean?« Gamache kniete sich hin und nahm die zitternden Hände des Kindes zwischen seine. »Sieh mich an«, sagte er freundlich, aber bestimmt, und Bean gehorchte. »Hat dir jemand wehgetan?«
Er wusste, dass er versuchen musste, eine Antwort von Bean zu bekommen, bevor die anderen da waren, und das würde nicht mehr lange dauern. Er sah dem verängstigten Kind in die Augen.
Bean streckte einen Arm aus. Auf der zarten Haut bildeten sich Schwellungen.
»Was haben Sie mit meinem Enkelkind gemacht?«
Es war zu spät. Sie waren da, und als Gamache den Kopf hob, blickte er in das vorwurfsvolle Gesicht von Irene Finney. Sie war eine Ehrfurcht gebietende Frau. Gamache brachte starken Frauen Bewunderung, Respekt und Vertrauen entgegen. Er war von einer solchen Frau großgezogen worden und hatte eine geheiratet. Aber er wusste, dass Stärke nicht gleich Härte war und dass ein Unterschied zwischen einer Ehrfurcht einflößenden Frau und einer Furcht einflößenden Frau bestand. Was von beiden war sie?
Die alte Dame erwiderte seinen Blick, streng, unnachgiebig, nach einer Antwort verlangend.
»Lassen Sie Bean los«, befahl sie, aber Gamache reagierte nicht darauf.
»Was ist passiert?«, fragte er das Kind leise.
»Es war nicht meine Schuld«, hörte er jemanden hinter sich sagen, er drehte sich um, es war die junge Gärtnerin.
»Normalerweise bedeutet das genau das Gegenteil«, erklärte Mrs. Finney.
»Irene, lass die junge Frau doch reden. Wie heißen Sie?«, fragte Bert Finney mit sanfter Stimme.
»Colleen«, sagte die Gärtnerin und wich vor dem alten Mann mit dem irren Blick einen Schritt zurück. »Es waren Wespen.«
»Es waren Bienen«, schniefte Bean. »Ich bin gerade um den Olymp herumgeritten, als sie mich gestochen haben.«
»Um den Olymp?«, stieß Mrs. Finney hervor.
»Der Marmorblock«, sagte Colleen. »Und es waren Wespen, die fliegen in letzter Zeit ständig hier herum. Keine Bienen. Das Kind kennt den Unterschied nicht.«
Gamache wandte sich wieder Bean zu und streckte seine große Hand aus. Das Kind zögerte, dann musterte Gamache die drei Schwellungen. Sie waren gerötet und fühlten sich heiß an. Als er sie näher untersuchte, entdeckte er die Stacheln mit den winzigen Giftblasen daran, die in der Haut steckten.
»Könnten Sie mir etwas Calaminlotion besorgen?«, bat er einen der Kellner, der daraufhin zum Haus spurtete.
Gamache hielt Beans Arm fest und entfernte rasch die Stacheln und die Giftblasen, dann suchte er nach Anzeichen für eine allergische Reaktion. Falls nötig, würde er das Kind ins Auto packen und sofort nach Sherbrooke ins Krankenhaus fahren. Er sah zu Reine-Marie, die offensichtlich dieselbe Sorge hatte.
Einmal Eltern, immer Eltern.
Die Stiche sahen zwar schmerzhaft aus, aber nicht lebensbedrohlich.
Reine-Marie nahm die Flasche mit der pfirsichfarbenen Lotion und hauchte einen Kuss auf jede der Schwellungen, bevor sie sie damit einrieb, dann richtete sie sich wieder auf. Rings um sie herum stritt die Familie inzwischen darüber, ob Calaminlotion wirklich etwas nutzte.
»Nun seid schon still, die Aufregung ist doch vorbei«, erklärte Mrs. Finney. Sie sah sich um, erspähte das Ruderboot und steuerte auf den Steg zu. »Also, wer sitzt wo?«
Nach einigem Hin und Her begannen Peter und Thomas, den anderen Morrows beim Einsteigen in die verchère zu helfen. Peter stellte sich in das Boot, Thomas auf den Steg, und zwischen ihnen nahmen Mrs. Finney, Mariana und Julia Platz. Bean kletterte vorsichtig, aber ohne jede Hilfe ins Boot.
»Jetzt komm ich!«, rief Sandra und streckte den Arm aus. Thomas reichte sie an Peter weiter.
Clara trat vor und hielt Peter die Hand entgegen. Peter zögerte.
»Entschuldige«, sagte Thomas und stieg an Clara vorbei ins Boot. Er setzte sich, und alle starrten Peter an, der vor dem einzigen noch freien Platz stand.
»Setz dich, bevor das Boot deinetwegen noch umkippt«, sagte Mrs. Finney.
Peter setzte sich.
Clara ließ die Arme sinken. Auf der spiegelnden Wasseroberfläche sah sie den hässlichsten Mann der Welt neben sich stehen.
»Nicht jeder schafft es ins Boot«, sagte Bert Finney, als die verchère vom Steg ablegte.
7
»Ich wollte im Grunde gar nicht mitfahren, wissen Sie«, sagte Clara, ohne Reine-Marie anzusehen. »Ich habe nur deshalb gesagt, ich komme mit, weil es Peter wichtig zu sein schien. So ist es wahrscheinlich besser.«
»Leisten Sie uns Gesellschaft, Sir?« Gamache ging zu Bert Finney, der hinaus auf den See sah. Finney wandte den Kopf und blickte Gamache an. Es war ein beunruhigender Blick, nicht nur wegen seines abstoßenden Gesichts und seiner merkwürdigen Augen, sondern weil es selten vorkam, dass einen jemand so lange so unverhohlen anstarrte. Gamache hielt dem Blick jedoch stand, und schließlich verzogen sich Finneys Lippen zu etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte, und ließen eine Reihe schiefer gelblicher Zähne zum Vorschein kommen.
»Nein, danke. Ich glaube, ich bleibe lieber hier.« Er ging ans Ende des Stegs. »Sieben verrückte Morrows in einer verchère. Was soll da schon schiefgehen?«
Gamache nahm seinen Hut ab und spürte sofort, wie stechend die Sonne war. Das war wirklich der heißeste Tag seines Lebens. Dazu war es jetzt auch noch erdrückend schwül. Kein Lüftchen regte sich, nicht der kleinste Hauch, und die Sonne brannte gnadenlos auf sie herab, von der Wasseroberfläche reflektiert und verstärkt. Sein frisches Hemd klebte schweißnass auf seiner Haut. Er hielt dem alten Mann den Hut hin.
Bert Finney drehte sich sehr langsam zu ihm um, als hätte er Angst zu kentern. Dann streckte er seine Greisenhand mit den knorrigen, weißen Fingern aus und griff nach dem bunt gemusterten Sonnenhut.
»Das ist Ihr Hut. Sie brauchen ihn.«
»Ich betrachte ihn insgeheim als meinen Helm«, sagte Gamache und ließ den Hut los. »Und Sie brauchen ihn mehr als ich.«
Finney lachte leise und strich mit den Fingern über den Stoff. »Ein Helm? Ich frage mich, wer der Feind ist?«
»Die Sonne?«
»So wird es wohl sein.« Aber es klang nicht danach, als würde er das auch glauben. Er nickte Gamache zu, stülpte den Hut auf seinen kahlen Schädel und wandte sich wieder dem See zu.
Eine Stunde später war Peter zurück und gesellte sich im Garten zu ihnen, das Gesicht rot verbrannt, wie Clara mit Befriedigung feststellte. Sie hatte beschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Kühl und gefasst.
Gamache reichte ihm eine Flasche kaltes Bier, von der das Eis tropfte. Peter hielt sie an sein gerötetes Gesicht und rollte sie über seine Brust.
»Hat es Spaß gemacht?«, fragte Clara. »War’s nett mit der Familie?«
»Es war gar nicht so übel«, sagte Peter und trank einen Schluck von seinem Bier. »Wir sind nicht untergegangen.«
»Meinst du?«, erwiderte Clara und stolzierte davon. Peter sah Gamache an, dann lief er hinter ihr her, doch als er sich dem Manoir näherte, fiel sein Blick auf ein riesiges Stück Leinwand,