Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin van Creveld
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783948075804
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ihre Stellung – ungewöhnlich für die griechischen Stadtstaaten – ererbten. In einer Passage, in der bereits die Gleichheitskritik unserer heutigen Zeit steckt, erwähnt er auch den »Despotismus« des Gesetzes, das nötig ist, um die Gleichheit durchzusetzen und zu erhalten.37 Ähnlich lässt sich Polybios, der griechische Historiker aus dem 2. Jahrhundert vor Christus, über die Verbrechen des Königs Nabis aus, als der versuchte, in Sparta wieder Gleichheit herzustellen und dafür reihenweise Menschen umbrachte.38 Etwa 1700 Jahre später befand Machiavelli, die Hauptschwäche Spartas im Vergleich zu Rom habe in seiner selbst nach griechischen Standards extremen Ablehnung gegen die Aufnahme Außenstehender in die Bürgerschaft bestanden. Gleichzeitig war Machiavelli aber klar, dass der Ausschluss von Fremden eine unbedingte Voraussetzung dafür war, die Gleichheit, wie sie zwischen den homoioi bestand, aufrechtzuerhalten. Sparta ruhte also auf einem Widerspruch, der nur in seinem Niedergang enden konnte – wozu es schließlich auch kam.39

      Während der Aufklärung lehnten die meisten französischen und britischen Denker Spartas Militarismus ab. Wie Herodot (und Thukydides) vor ihnen verwiesen sie auf die Unterdrückung des Individuums durch den Staat, seine vollständige Unterordnung unter dessen Ansprüche und damit den Verlust der Freiheit sowie die Tendenz, Literatur und Kunst zu vernachlässigen. Natürlich war alles das zugleich Ursache und Folge der berühmten spartanischen Kombination von Genügsamkeit und Gleichheit, insbesondere auch der materiellen Gleichheit.40 Angesichts seines späteren Rufs als Urvater von Kommunismus wie Faschismus mag es vielleicht erstaunen, dass unter den Angreifern der spartanischen Version der Gleichheit auch der große Philosoph Georg Friedrich Hegel (1770–1831) war. Für ihn zerstörte sie die »freie Individualität«, die oberstes Ziel jedes Staatswesens war oder sein sollte.41

      Doch diese Ansicht war keineswegs Gemeingut. Für Abbé Gabriel Bonnot de Mably (1709–1785), einen weiteren bekannten Autor der Aufklärung, sollte die von Lykurg auferlegte wirtschaftliche Gleichheit freie Menschen schaffen; natürlich nicht in dem Sinn, dass sie frei von den Forderungen des Staates waren, sondern frei von dem Streben nach Reichtum und damit offen für das Streben nach Tugend.42 Am bekanntesten freilich war Mablys Zeitgenosse Rousseau. Er benutzte Sparta als Waffe in seinem lebenslangen Kampf gegen die Ungleichheit, die er als typisches Merkmal der modernen Welt verstand. Die kraftvollen, scharfen Worte und Taten der Spartaner, schrieb er, seien dem Geschwätz der Athener eindeutig vorzuziehen.43

      In einer Rede vor der Nationalversammlung im Mai 1794 würdigte sogar Robespierre das alte Sparta. Vor einem historischen Hintergrund aus Ungleichheit, Egoismus und Gier, so Robespierre, scheine Sparta »hell wie ein Stern«.44 Zwei Monate später wurde Robespierre abgesetzt und hingerichtet. Für das 19. Jahrhundert könnte die Liste der Publizisten, die ihrer Bewunderung für Sparta Ausdruck verliehen, unendlich weitergehen. Für viele Militaristen beidseitig des Rheins war die Gleichheit, wie sie in der Stadt herrschte, eine notwendige, wenn auch unter modernen Bedingungen impraktikable Voraussetzung für die Erlangung ihrer außergewöhnlichen militärischen Schlagkraft. Besonders in Frankreich hielten auch viele republikanische Radikale sie hoch in Ehren. In direkter Nachfolge Rousseaus sahen sie in Sparta den Inbegriff der bürgerlichen Tugend. Allzu häufig ließen sie sich dabei freilich nicht von der Tatsache stören, dass die Gleichheit erzwungen und das gesamte Leben bis ins Kleinste reglementiert war.

      Wie so oft fügten die Nationalsozialisten der Sache ihre ganz eigene Note bei. Für sie war die Athener Version der Gleichheit, besonders in Begleitung der Demokratie, verweichlicht und unmännlich. NS-Historiker erklärten die Spartaner zu nordischen »Doriern« und behaupteten, sie hätten ihre Gleichheit und damit auch ihre Größe für die Zeit ihrer Blüte dadurch gesichert, dass sie die Angehörigen niederer Rassen ausschlossen und sich weigerten, sich in irgendeiner Form mit ihnen zu mischen.45 Für sie waren die homoioi also ein Vorbild. Die Heloten verdienten es, wie Hunde behandelt, versklavt, ausgenutzt, gar getötet zu werden. Bei all dem standen die Nationalsozialisten auf der ganz anderen Seite als Machiavelli. Tatsächlich bescherten sie ihrem Land das gleiche Schicksal wie Sparta, indem sie es in einen Krieg gegen die ganze Welt führten; und den konnten sie, so hervorragend ihre Wehrkräfte auch sein mochten, wegen ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit nicht gewinnen.

      Im Fall Spartas werden Kritiken an den homoioi, ihrer Lebensführung und dem Preis, den sie dafür bezahlten, häufig von der Haltung bestimmt, die ihre Autoren zum Militarismus und der Kampfkraft des Stadtstaates einnehmen. Ob wir uns einig sind oder nicht, dass die Stadt von eunomia, also »guten Gesetzen« gelenkt wurde – die Gleichheit in Sparta war die, die normalerweise in Heerlagern herrscht. Persönliche Freiheit gab es nicht. Jeder wurde auf einen gemeinsamen Nenner erhoben oder, je nach Gesichtspunkt, erniedrigt. Das eröffnete ganz sicher keinen Weg in Richtung Demokratie; politisch gesprochen gab es keine gleichen Rechte. Bewertungen der Gleichheit in Athen dagegen lassen sich immer schwer trennen von der Bewertung der dortigen Demokratie. Schon bei Herodot werden die beiden häufig in eins geblendet und sogar miteinander verwechselt. In Athen führte die Gleichheit zu einer impliziten Demokratie, während die Demokratie wiederum die Gleichheit beförderte.

      Lange vor Anatole Frances Ausspruch von »der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen«, kritisierten mehrere antike Autoren, die Athenische Gleichheit gehe nicht weit genug. Besonders prominent waren dabei Phaleas von Chalkedon und Hippodamos von Milet. Beide schrieben in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts vor Christus. Phaleas, den wir nur von Aristoteles kennen, wies darauf hin, es sei zwar eine gewisse bürgerliche und politische Gleichheit erreicht, sozio-ökonomische Gräben aber dadurch nicht geschlossen worden. Eine Ungleichheit auf diesem Gebiet sei das unvermeidliche Ergebnis einer Gesellschaft, die die Landwirtschaft und das System aufgab, nach dem jedermann sein eigenes Stück Land besaß und für seine eigene Familie aufkam, um stattdessen Industrie und Handel zu betreiben. Er schlug daher vor, alle Handwerker zu öffentlichen Sklaven zu machen, womit sie auch aus der Bürgerschaft ausscheiden würden. Vervollständigt wurde sein Entwurf durch zwei weitere Reformen: erstens die graduelle Umverteilung von Landeigentum durch die neue Regel, dass Mitgiften von Armen nur empfangen und von Reichen nur gespendet werden durften; und zweitens – vielleicht eine Anleihe aus Sparta – die gleiche Erziehung für alle.46 Dafür freilich seien alle anderen Arten von Gleichheit belanglos.

      Viel bekannter als Phaleas war Hippodamos von Milet, ein Architekt, auf den die Anlage von Städten mit einem nach Rasterlinien verlaufenden Straßenverlauf zurückgeführt wird. Bis heute kann man seine Arbeit in den Straßen des Athener Vororts Piräus besichtigen. Wie in vielen modernen amerikanischen Städten spiegelte der Plan den Wunsch nach einer Art von Gleichheit zwischen den Einwohnern wider. Auch Hippodamus wollte das sozio-politische Ungleichgewicht durch die Einführung einer Art kommunalen Besitzes korrigieren. Der Unterschied war, dass die Bürgerschaft und damit das Recht sowohl auf Bürgerrechte als auch auf politische Teilhabe unberührt bliebe. Land, das weiterhin als bedeutendste Ressource galt, war stets Gemeinschaftsbesitz. Ein Teil davon sollte den Göttern gewidmet werden, ein zweiter die Soldaten ernähren, ein dritter die Bauern.47 Aristoteles wandte dagegen ganz zurecht ein, dass Hippodamus vergessen hatte zu sagen, wer das Land der Soldaten bebauen sollte. Zudem könne eine funktionale Aufspaltung von Soldaten und Bauern nie funktionieren. Der Plan sah nichts vor, um zu verhindern, dass Erstere die Bauern unterdrückten.

      Auch in der Schule der Kyniker (von kynos, Hund) hoffte man im 4. Jahrhundert, Gleichheit herzustellen, indem man Besitz abschaffte. Allerdings handelte es sich dabei um die Gleichheit von Armen und Bettlern, die nichts besaßen und nichts zu verlieren hatten. Einer von ihnen war Diogenes, der Philosoph, der in einer Tonne lebte und Alexander den Großen bat, ihm aus der Sonne zu gehen; er sagte, die Menschen sollten sich durch nichts anderes voneinander unterscheiden als allein durch ihre Tugend.48 Das Unternehmen hätte zu einer Zerlegung der Polis oder jeglicher organisierten Staatsform geführt. Den Kynikern war das klar, sie freuten sich gar darauf.49 Noch andere Kritiker, insbesondere Thukydides, schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Für sie war das Problem an Demokratie und isonomia–wie gesagt weitgehend Synonyme –, dass sie viel zu weit reichte. Plutarch prägte die vortreffliche Metapher, der Fehler an Athen sei vor allem, dass es ihm an einem stabilisierenden