Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin van Creveld
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783948075804
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Regel nicht den Göttern. Und griechische Priester wiederum waren meist Amtsträger wie alle anderen.12 Die Liste der Erklärungsversuche für die Entstehung der Polis ist damit noch lange nicht vollständig, doch keiner ist so überzeugend, dass er jedem Widerspruch standhalten würde. So sollten wir denn die Polis, den selbstverwalteten Stadtstaat, als gegeben nehmen und daran die Natur und die Entwicklung unseres Themas Gleichheit nachzeichnen.

      In der Praxis konzentrieren wir uns dabei auf zwei von mehreren hundert Stadtstaaten: Sparta und Athen. Sparta, weil dort in gewissem Sinn die Gleichheit weiter vorangetrieben wurde als irgendwo sonst – eine Leistung, für die es neben der viel gefeierten militärischen Stärke in ganz Griechenland berühmt war; und Athen, weil relativ umfassende Zeugnisse zugänglich sind und weil es in seinen eigenen und in den Augen anderer häufig als »Schule von Hellas« galt. Außerdem verstand man schon in der Antike die beiden Städte als radikal unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Systeme und Lebensformen. Eine Untersuchung beider Städte ist das beste Mittel, sie auch beide zu verstehen.

      Sowohl in Athen als auch in Sparta bestand der große Schritt in Richtung Polis vor allem im plötzlichen oder auch nur schrittweisen Abbau früherer, auf Abstammung beruhender Organisationsformen. An ihre Stelle trat eine einzige Regelung auf Grundlage von geografischer Lage und Bürgerschaft. In Sparta wurden diese Reformen angeblich von Lykurg durchgeführt. Ob er wirklich existiert hat und wenn ja, wann, ist völlig unklar. Obwohl aristokratischer Abstammung, war er kein Herrscher; Plutarch, der etwa 800 Jahre nach den Ereignissen wirkte, erklärt: »in ihm aber erkannten sie die echte Führernatur und die Fähigkeit, die Menschen zu leiten.«13 Über das Leben in Sparta vor Lykurg wissen wir ebenfalls sehr wenig. Herodot und Thukydides deuten beide an, um die Mitte des 7. Jahrhunderts habe es eine Zeit der Unruhe und des Bürgerzwists gegeben; Herodot zufolge war Sparta vor der Reform»die am schlechtesten regierte Stadt ganz Griechenlands«.14

      Was die Gründe dafür angeht, verfügen wir über das Zeugnis des Thukydides, eines gut informierten Realisten ersten Ranges. Er erklärt: »von je war ja in Sparta der Sinn fast aller Maßnahmen die Sicherheit vor den Heloten«, also jener halb versklavten Volksgruppe, die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Christus in der Folge der Kriege gegen eine andere peloponnesische Stadt, Messenia, entstanden war. Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert, die geknechteten, misshandelten Heloten in Sparta »lauern gewissermaßen ständig auf deren Unglücksfälle«.15 Um sie an dem Versuch einer Selbstbefreiung zu hindern, machten die Spartaner ihre Stadt zu einem einzigen Wehrlager. Sie müssen sich ganz zurecht gefühlt haben, als säßen sie auf einem Pulverfass.

      Immer noch nach Plutarch, dessen Bericht bei Weitem am detailliertesten ist, bestand der kritischste Punkt zur Gleichstellung der homoioi (»die sich gleichen«) oder Spartiaten darin, allen privaten Landbesitz zu enteignen und dem Staat zu übergeben. »Denn da eine furchtbare Ungleichheit bestand, viele besitz- und erwerbslose Menschen dem Staat zur Last fielen und der Reichtum in ganz wenige Hände zusammengeflossen war, so ging er daran, Übermut, Neid, Verbrechen, Schwelgerei und die noch bedeutsameren und größeren Gebrechen eines Staates, Reichtum und Armut, auszutreiben. Er überredete die Bürger, den gesamten Grund und Boden zur Verfügung zu stellen und ganz neu aufzuteilen, um danach alle gleich unter gleichen Lebensbedingungen zu leben und einen Vorrang nur durch Tüchtigkeit zu erstreben, da kein Unterschied und keine Ungleichheit unter ihnen bestehen sollte außer derjenigen, welche der Tadel schlechter und das Lob guter Taten bewirkt.«16 Jedes Flurstück war groß genug, um einen Mann und seine Frau zu ernähren, aber mehr auch nicht.

      Zu jedem Flurstück kam eine Anzahl von Heloten, die für ihren spartiatischen Herrn das Land bebauten. Damit konnten die Spartiaten ihr Leben vollständig dem militärischen Training widmen. Sie lernten das Vorrücken, den Rückzug und den besten Einsatz ihrer Waffen und wurden damit »die größten, bewährtesten Meister in allen Künsten des Krieges«.17 Da Lykurg sich nicht mit halben Sachen zufriedengab, ließ er auch beweglichen Besitz sammeln und umverteilen. Um die Rückkehr der Ungleichheit durch Handel und Vorratshaltung zu verhindern, wurden Gold und Silber verbannt. Fortan mussten die Spartaner eine eiserne Währung verwenden, die unhandlich und nur für die kleinsten Käufe verwendbar war. Außerhalb Spartas war sie wertlos und wurde dort auch bald mit Hohn und Spott bedacht. Mit der Abschaffung des Grundeigentums, so Plutarch, verschwand auch jede Art von Laster. Nicht nur Genusssucht, sondern auch Wegelagerei, Hurerei, Täuschung durch Wahrsager und andere Gesellschaftslaster waren im Nu Vergangenheit.

      Lykurgs Gleichheitsstreben führte zudem direkt zu einer weiteren, »erlesenen« Reform: nämlich der Einrichtung von Tischgemeinschaften (syssitia) oder, um einen Begriff aus der modernen Anthropologie zu verwenden, von Männerhäusern. Hier nahmen die Spartiaten ihre Mahlzeiten ein und verbrachten die Nächte. Diese Gewohnheit mussten sie sogar nach ihrer Hochzeit noch eine Zeitlang beibehalten und ihre Frauen also heimlich besuchen. Voraussetzung für die Aufnahme in die Syssitien und allgemein für die Anerkennung als Vollbürger war die Absolvierung eines langjährigen Erziehungssystems, der so genannten agoge. Sie begann im Alter von sieben Jahren und dauerte bis etwa zwanzig. Dort ging es so rau und beschwerlich zu, dass Aristoteles befand, diese Zucht eigne sich eher für Tiere als für Menschen. Um die eigene Tischgemeinschaft zu unterstützen, musste jedes Mitglied seinen Nahrungsbeitrag leisten. Männer, die aus dem einen oder anderen Grund ihr Flurstück verloren hatten und nichts mehr beitragen konnten, fielen aus dem System heraus. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie ihren Status als Spartiat verloren.

      Lykurg erachtete die Gleichheit für so wichtig, dass er sie sogar auf den Tod anwendete. Er verbot nicht nur die Bestattung jeglicher Gegenstände bei ihrem Eigentümer, sondern auch die namentliche Kennzeichnung der Gräber. Einzige Ausnahmen von dieser Regel waren Männer, die in der Schlacht getötet worden waren, und Frauen, die den Tod im Wochenbett gefunden hatten. Seine sozio-ökonomischen Reformen ergänzte Lykurg auch durch politische. Sparta, so Plutarch, war lange von zwei basileis beherrscht worden. Doch »die Könige, so meinten [die Spartaner], hatten ja vor der Menge nur den Namen und die Ehre, sonst nichts voraus« und erlagen derselben menschlichen Schwäche.18 Daher neigte die Stadt bald zu den Exzessen der Tyrannei, bald zur Instabilität der Demokratie. Um dieses Problem zu beheben, richtete Lykurg einen Ältestenrat ein, dem achtundzwanzig Männer über sechzig Jahren auf Lebenszeit angehörten. Wenn einer von ihnen verstarb, bestimmte die Volksversammlung, also alle männlichen spartanischen Vollbürger, per Akklamation einen neuen. Sie sollte stabilisierend auf das Staatsschiff wirken, es in ruhiger Fahrt halten.

      Schließlich setzte Lykurg oder einer seiner Nachfolger – in dieser Hinsicht sind die Quellen uneins – die Ephonten oder Aufsichtsbeamten ein. Die fünf Männer wurden jährlich gewählt und hatten zur Aufgabe, die Könige zu kontrollieren. Ältestenrat und Könige besaßen das alleinige Recht, die Volksversammlung einzuberufen und dort Anträge einzubringen. Versuchten sie freilich, Themen zu behandeln, die die Ephoren nicht billigten, so konnten diese die Volksversammlung vertagen. Die größten Abweichungen von der Gleichheit bestanden insgesamt darin, dass Privatpersonen nicht individuell vor der Volksversammlung sprechen konnten, dass nur alte Männer in den Rat gewählt werden konnten und dass die Königswürde weiterhin erblich war und lediglich den Mitgliedern zweier Geschlechter offenstand, den Agiaden und den Eurypontiden. Als Lykurg einmal hierzu befragt wurde, kanzelte er den Frager in typischer »lakonischer« Kürze und Prägnanz ab: »Führ du erst mal in deinem Hause die Demokratie ein!«.19 Wichtig ist hier festzuhalten, dass laut Platon die tatsächliche Macht bei den Ephoren lag. Sie wurden zwar jährlich demokratisch gewählt, doch ihre Herrschergewalt hatte ein »erstaunlich tyrannisches Gepräge«. Die Könige, so Platon, waren eher Generäle.

      Viele moderne Historiker sind der Ansicht, dass die Reformen nicht von einer Einzelperson, sondern schrittweise über einen viel längeren Zeitraum hinweg durchgeführt und erst im Nachhinein Lykurg zugeschrieben wurden. Selbst falls dieser tatsächlich gelebt hat, musste er mit Sicherheit beträchtlichen Widerstand überwinden und konnte nicht alles auf einmal durchsetzen. Für unsere Belange ist aber viel wichtiger, dass die Gleichheit unter den Spartiaten nur auf Kosten der Heloten erreicht werden konnte. Diese waren nicht nur versklavt, sondern überdies erklärten ihnen die Beamten noch Jahr für Jahr formal den Krieg. Daraufhin lauerte die spartiatische Jugend ihnen mit Dolchen