Einige moderne Historiker argumentieren, isonomia habe damals nicht mehr bedeutet als Gleichheit unter Adligen.31 Doch selbst in diesem Fall entwickelte sich das Konzept bald parallel zur Demokratie. Den nächsten wichtigen Schritt in dieser Richtung unternahm Kleisthenes. Mit ihm betreten wir die große Ära der Athener Geschichte und seine unvergleichlich großartigen Leistungen in allen Lebensbereichen. So wie die Solon zugeschriebenen Reformen wahrscheinlich mit dem Aufkommen des Hoplitenkampfes zusammenhingen, verdankten die Reformen des Kleisthenes viel der Entwicklung der athenischen Flotte und ihrer berühmten Kriegsschiffe, den Trieren. Für den Antrieb der Trieren wurden Tausende Ruderer gebraucht. Rekrutiert werden konnten diese nur unter denen, die dem Staat nichts zu bieten hatten außer ihre Muskelkraft. Als Gegenleistung mussten sie das Stimmrecht erhalten und in die Volksversammlung zugelassen werden – wenn das nicht bereits Solon so eingerichtet hatte. Auch die Gesetze, nach denen die Mitglieder der unteren Klassen keine Ämter übernehmen durften, wurden über Bord geworfen.32
Durch eine neue Gliederung der Bevölkerung nach Wohnort statt nach Phylenzugehörigkeit förderte Kleisthenes auch den Prozess, in dem alle Bürger zu einem einzigen Verband verschmolzen. Der Areopag verlor weiterhin an Macht zugunsten des Rats, dessen Mitgliedszahl Kleisthenes auf 500 erhöhte. 462 vor Christus, also vierzig Jahre nach Kleisthenes’ Reformen, verlor der Areopag auf Betreiben des radikal demokratischen Politikers Ephialtes schließlich fast alle seine noch verbleibenden Funktionen. Wohlgemerkt geschah das alles weder in einem Zug noch unwidersprochen; vielmehr waren die Reformen von heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen den »konservativen« Adligen und den »progressiven« Demokraten begleitet. Eines der Opfer dieser Kämpfe war Ephialtes, der 461 vor Christus ermordet wurde.
Ephialtes’ Nachfolger wurde der große Perikles. Unter seiner etwa dreißig Jahre andauernden Führung nahm die Athener Demokratie ihre klassische Form an. Ein Hinweis darauf war neben der isonomia (von iso, gleich, und nomos, Brauch, Sitte, Gesetz) das Aufkommen mehrerer eng miteinander verknüpfter Konzepte. Das waren unter anderem die isogeria, also das gleiche Rederecht aller Bürger vor den verschiedenen politischen Gremien; isopsephos, gleiches Stimmrecht für alle; und isokratia oder Gleichheit der Macht. Die isonomia selbst lässt Herodot einen persischen Adligen als »den schönsten aller Namen«33 bezeichnen. Demokratie war nie zuvor versucht worden. Und über viele, viele Jahrhunderte hinweg sollte dieser Versuch auch der einzige bleiben.
Der Souverän war die Volksversammlung. Nur sie hatte die Macht, Gesetze zu verabschieden, Bündnisse zu schließen, Krieg oder Frieden zu erklären und die wichtigsten Beamten zu bestellen (die übrigen wurden per Los bestimmt, so dass jeder männliche Bürger die Chance hatte, an der Regierung mitzuwirken). Alle Beamten dienten ein Jahr lang und mussten bei Amtsende vor der Versammlung Rechenschaft ablegen. Um sicherzustellen, dass die Mitwirkung in der Regierung wirklich allen offenstand, wurden die Beamten und Richter aus dem öffentlichen Haushalt bezahlt. Doch mehr noch -, die Athener verstanden die isonomia explizit auch als Gleichheit vor dem Gesetz. Sowohl zuvor als auch danach galten in den meisten Staatswesen für verschiedene Volksschichten auch verschiedene Gesetze; die Mächtigsten, ob Könige, Kaiser oder Tyrannen, waren sehr häufig an gar kein Gesetz gebunden. Nicht aber im klassischen Athen: Dort wurde absolute Gesetzestreue ohne Unterschied von allen gefordert.
Um die isonomia noch weiter zu treiben, durften keine Anwälte mehr verpflichtet werden. Zwar konnte niemand daran gehindert werden, sich seine Reden von anderen schreiben zu lassen, aber vor Gericht musste man für sich selbst sprechen. Dass das Gericht selbst unparteiisch und unbestechbar blieb, garantierte schon allein die große Zahl von Richtern, die jeden Fall begutachteten – nämlich 500 oder bei den wichtigsten Fällen sogar 1000. Auch sie wurden per Los bestimmt, wozu auch eine eigens zu diesem Zweck entwickelte raffinierte Losmaschine zum Einsatz kam. Alles das wirkte ganz nach Plan zugunsten der Gleichheit und einerseits gegen Vetternwirtschaft, andererseits gegen Korruption. Laut Thukydides kam so jeder Einzelne an sein »ebenmäßig Stück um Stück«.34
Damit gründeten sich also sowohl Sparta als auch Athen jede auf ihre Weise auf die Gleichheit. Dennoch, das zeigt allein schon die unterschiedliche Terminologie, die in den beiden Städten in Gebrauch war, waren sie alles andere als ähnlich. Die homoioi einerseits und die der isonomia Unterstellten andererseits entwickelten zwei radikal unterschiedliche politische, ökonomische, soziale und kulturelle Systeme. Der Kontrast durchdringt das gesamte Werk des Thukydides und insbesondere die Reden, die er verschiedenen Leitfiguren auf beiden Seiten in den Mund legt. Die bei weitem wichtigste davon ist die Gefallenenrede des Perikles, gehalten relativ früh im Peloponnesischen Krieg, in den er Athen führte und der in einer Niederlage endete.35 Gemeinsam zeichnen die Reden ein klares, wenn auch vielleicht allzu überzogenes Bild beider Systeme. Die Spartaner waren spezialisiert auf Kampf und Gewalt, die Athener dagegen vielseitig (obwohl auch selbst im Kampf keineswegs zu unterschätzen). Die Spartaner schotteten sich ab und lebten in relativer Isolation im Zentrum ihrer Halbinsel, während Athen Fremden aus aller Welt offenstand. Die Spartaner waren konservativ, die Athener immer auf der Suche nach Neuem. Die Spartaner waren zurückhaltend und diszipliniert, die Athener risikofreudig. Die Spartaner waren stur und abwartend, die Athener waren berühmt für ihre zupackende Auffassungsgabe. Obwohl die Athener tapfer und zur Kriegsführung durchaus in der Lage waren, war ihre Stadt alles andere als ein Heerlager. Vor allem aber, so Perikles, bestand die Athenische Demokratie anders als jede andere Polis aus freien Männern, die unter ihrer eigenen Herrschaft lebten. Das garantierte nicht nur allen Bürgern gleiches Recht, sondern ermöglichte es zugleich auch allen, die es wollten, dem Staat so weit zu dienen, wie es ihren Fähigkeiten entsprach.
Nehmen wir als wirklichen Startpunkt die Reformen des Kleisthenes kurz vor 500 vor Christus, so dauerte abgesehen von einer kurzen Phase um 400 die Athenische Demokratie und die isonomia, auf der sie beruhte, bis 338. In diesem Jahr geriet die Stadt unter die Herrschaft der Makedonier und büßte ihre Unabhängigkeit ein, blieb aber noch über Jahrhunderte ein Zentrum von Bildung und Kultur. Sowohl die spartanische als auch die Athener Version der Gleichheit wurde bereits von den Damaligen und wird bis heute ausführlich erforscht. Was dabei herauskam, wollen wir nun betrachten.
In den letzten rund 2500 Jahren fand Sparta allgemein und im Besonderen die Form der Gleichheit, die seinen Bürgern zustand, eine sehr gemischte Presse. Für Xenophon, einen Athener, der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts eine Zeitlang in Sparta lebte, war Lykurg »ein äußerst weiser Mann«, der mit seinen Gesetzen »seine Vaterstadt zu außerordentlichem Glück« führte;36 besonders begeisterte ihn das Militärsystem. Um 400 bewunderte auch Platon die Stadt, freilich weniger für ihre militärische Stärke als für ihre Form sozio-ökonomischer Gleichheit unter den homoioi, in der er eine Voraussetzung sowohl für Stabilität als auch für Gerechtigkeit sah. Daher nutzte er sie gar als Modell für das Staatswesen, das er in seinem größten Meisterwerk, der Politeia, entwarf. Auch Plutarch scheint Spartas Niedergang zu bedauern. Das zeigt sich nicht nur in seiner Lykurg-Vita, sondern auch in den vielen exemplarischen Aussprüchen »wahrer« Spartaner und Spartanerinnen in seinen Moralia.
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