„Grüß Gott. Stimmt etwas mit dem Kuchen nicht?“, erkundigte er sich zuvorkommend und höflich.
„Nein, alles bestens. Ich wollte dich nur wiedersehen, Frederic“, wagte sich Nele vor.
Frederic verengte seine Augen zu Schlitzen und musterte Nele, ehe ihm ein Licht aufzugehen schien. „Nele, das süße Mädchen, das mich mit ihren Küssen im Sommerlager verzaubert hat“, sagte er charmant und setzte sich ungefragt an den Tisch. Er nahm Neles Hand in die seine und küsste ihren Handrücken. „Schön, dich wiederzusehen“, erklärte er lächelnd.
Neles Herz hüpfte vor Freude. „Ich freue mich auch sehr“, gab sie zurück.
Es folgte ein zweistündiges Gespräch über alte Zeiten. Nele versank in seinen wunderschönen braunen Augen. Frederic war sympathisch und charmant, alles an ihm schien zu stimmen. Nele war zufrieden, das Wiedersehen verlief sehr erfreulich. Es war fast so, als wäre dazwischen keine Zeit vergangen, sie verstanden sich auf Anhieb blendend. Noch dazu hielt er die ganze Zeit hindurch Neles Hand, das Gefühl seiner Berührung war sehr angenehm und ließ Neles Hoffnung weiterleben.
„Möchtest du die Konditorei sehen? Also die Backstube, in der wir unsere süßen Leckereien herstellen?“, fragte Frederic.
Nele willigte ein und folgte ihm. Es war spannend, zu sehen, welcher Aufwand für das vielseitige Angebot der Konditorei betrieben wurde, es war ein Zuckerbäckerparadies, Kreativität und unverfälschter Geschmack wurden hier eindeutig großgeschrieben. Zum Schluss der Führung zeigte Frederic Nele sein Büro. Kaum hatte er die Tür zugemacht, zog er Nele an sich. Er küsste sie auf die Lippen und brachte Nele in Gedanken durch diese spontane Berührung zurück in die Vergangenheit, als sie Frederic damals zum ersten Mal küsste. Es tat gut, ihn spüren zu können, es war genauso schön wie damals. Nele war sichtlich aufgeregt. Doch er war kein Teenager mehr und seine Hände knöpften nun gekonnt Neles Bluse auf. So etwas hätte er damals nicht getan. Und auch jetzt wollte es Nele nicht überstürzen, auch wenn sie sich sehr nach Nähe sehnte. So trat sie einen Schritt zurück.
„Frederic, es ist wunderschön, dich zu küssen, aber ich will es nicht übertreiben fürs erste Mal. Ich würde dich gerne besser kennenlernen“, sagte sie mutig.
Frederic sah beschämt zu Boden und stammelte: „Nele, ich bin verheiratet und habe eine drei Monate alte Tochter. Es tut mir leid, ich dachte mir, ich könnte einmal mit dir schlafen. Es ist nur, ich habe es mir immer gewünscht, dich so spüren zu können. Es war nicht richtig, ich sollte meine Frau nicht betrügen. Ich glaube, es war ziemlich unüberlegt von mir.“
Nele blieb der Mund offen. Es war ihr jetzt peinlich, hier zu sein. Warum hatte sie nicht gleich nach einer Ehefrau gefragt? Natürlich stand seine Familie an erster Stelle! Genau diesen Fehler wollte sie nicht begehen. Schleunigst verschwand sie aus seinem Leben und rannte weg, ohne sich umzudrehen. Immer mehr wuchs ihr die Sache über den Kopf, jetzt brachte sie schon Familienväter dazu, sich zu entschuldigen. Sie war eindeutig kein guter Mensch. Durch Wut und Verzweiflung legte sich ein Tränenschleier über ihre Augen, während sie nach Hause fuhr. Ihr Leben glich immer mehr dem einer Achterbahnfahrt.
Nele suchte umgehend Hilfe bei Martha, die mit ihrer Hab-ich-dir-doch-gleich-gesagt-Rede keine große Hilfe war. Dass sie heute einen schweren Fehler begangen hatte, wusste Nele selbst. So packte sie ihre Jungen zusammen und brachte sie nach Hause, um von dort aus Lisa anzurufen. Vielleicht konnte diese ihr weiterhelfen.
Lisa zeigte mehr Verständnis, konnte ihr aber auch nur zur Geduld und zum Vertrauen in Gottes Plan raten. Das war Nele mittlerweile zu wenig handfest. Sie wollte doch nur glücklich sein, war es leid, zu warten. Es fühlte sich schrecklich an, ohne die zärtliche Liebe, die Jan immer für sie übrig gehabt und die so unendlich gutgetan hatte.
Nele fiel durch den Vorfall erneut in ein tiefes Loch, ließ es in ihrer Trauer zu, komplett abzustürzen. Allen Vernunftgründen zum Trotz betrank sie sich und leerte Weinglas um Weinglas, während Samuel und Jonas schliefen. Der Alkohol und die tiefe Einsamkeit machten Nele schläfrig. Sie war gerade dabei, einzunicken, als das Telefon läutete.
„Nele? Hier ist Noah. Lisa hat unser Baby zur Welt gebracht. Wir wollen es nach dir benennen, Nele, und dich fragen, ob du seine Patin wirst. Kannst du herkommen?“, flötete Lisas Ehemann aufgeregt ins Telefon.
Nele vergaß über die Euphorie, dass sie zu betrunken war, um mit dem Auto fahren zu können. Sie weckte kurzerhand ihre Söhne und setzte sich hinters Steuer mit ihren Kindern auf der Rückbank, was keine gute Entscheidung war. Doch weit kam sie nicht, schon nach der ersten Kurve verlor sie die Kontrolle über den Wagen und krachte trotz Vollbremsung in eine Straßenlaterne. Erschrockene Passanten holten umgehend Hilfe. Die Rettung brachte Mutter und Kinder ins Krankenhaus. Samuel hatte eine Platzwunde am Kopf und Jonas einen gebrochenen Arm. Nele selbst hatte zwei gebrochene Rippen und musste operiert werden.
Als sie aus der Narkose erwachte, plagte Nele das schlechte Gewissen, alles lief wieder einmal schief in ihrem Leben. Den Führerschein war sie mit Sicherheit los und ihre eigenen Kinder hatte sie in Lebensgefahr gebracht. Wie sollte sie sich selbst ihr dummes Verhalten verzeihen? Nele weinte, keine der Krankenschwestern konnte sie beruhigen, ehe die Tür aufging und genau die fünf Menschen eintraten, bei denen Nele sich dringend entschuldigen musste.
Als Erster stürmten Samuel und Jonas auf ihre Mutter zu und umarmten sie vorsichtig. Nele stöhnte trotzdem auf vor Schmerzen. „Jungs, es tut mir so leid, dass ich euch in Gefahr gebracht habe“, sagte Nele aufrichtig.
„Passt schon, Mama. Wir sind so froh, dass du lebst“, gab Samuel zurück.
„Wir hatten alle unbeschreibliches Glück. Der Arzt meinte, dass ein Schutzengel über uns gewacht hat“, ergänzte Jonas.
„Ja, da hat er wahrscheinlich recht“, versuchte Nele, positiv zu klingen. Dann lenkte Nele ihre Aufmerksamkeit auf das Trio, das noch im Zimmer stand – beziehungsweise saß und lag. Denn Noah hatte Lisa in einem Rollstuhl hereingebracht und sie hatte das neugeborene Baby am Arm liegen.
„Darf ich vorstellen, das ist Nele“, sagte Lisa ohne Vorwürfe in der Stimme.
Nele musste nun wieder weinen, aber dieses Mal vor Freude. „Es tut mir so leid, was ich angerichtet habe“, gestand Nele.
„Gott hat dir längst verziehen, damit du es in Zukunft besser machen kannst. Warum sollten wir dich dann verurteilen?“, erklärte Noah.
„Ihr seid so wunderbare Menschen“, schniefte Nele.
Lisa legte Nele das Baby in den Arm und fragte: „Magst du ihre Patin werden?“
„Nichts lieber als das“, freute sich Nele dankbar.
Das Geschenk, das ihr das Leben in diesem Moment machte, war unbezahlbar. Klar musste Nele noch die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen. Aber das war ihr momentan egal, denn ihre Söhne waren am Leben und verziehen ihr und Lisas kleine Familie war nicht einmal böse auf sie. Ganz im Gegenteil, sie vertrauten ihr weiterhin. Nele war glücklich und wieder felsenfest sicher, Gott meinte es doch gut mit ihr.
Und Nele hielt endlich daran fest, sodass eine dankbare Zeit an Gott folgte. Es war wie ein Neuanfang, ihre Fehler war verziehen und das beflügelte Nele, dankbarer für die wertvollen Menschen und wichtigen Dingen des Lebens zu sein. Sie haderte auch nicht mehr mit der Tatsache, alleinerziehende Mutter zu sein, denn sie war so glücklich, dass ihren Kindern bei dem Unfall nichts zugestoßen war und dass sie ihre Entschuldigung akzeptiert hatten.
Nele musste zwar eine Nachschulung machen, um ihren Führerschein zurückzubekommen, aber sie empfand das als gerecht. Für ihre erneute Mobilität lernte sie fleißig und stotterte ihre Geldstrafe vom Gehalt ab. Es war trotzdem gut so, die Freude darüber, dass nicht mehr passiert war, überwog eindeutig.
Nele erlaubte es sich einfach wieder, glücklich zu sein – gemeinsam