Doch eines war sehr merkwürdig in dieser freudigen Zeit. Der Traum von Peristera kehrte fast jede Nacht wieder. Er wiederholte sich unaufhörlich, sodass Nele Peristera immer wieder zuschaute, wie sie die Inschrift am Altar anbrachte. Aber Nele konnte nicht erkennen, was sie schrieb, denn sie wachte stets im entscheidenden Moment auf. Dieser Traum verwirrte Nele immer mehr. Was hatte Peristera mit ihrem Leben zu tun? Und warum konnte sie nicht erkennen, was so wichtig war, dass die fremde Frau es in den Altar ritzte?
Nach ein paar Wochen kramte Nele noch einmal die Liste hervor, und zwar zum letzten Mal. Ein einziger Name stand noch darauf. Sie hatte zwar keine Hoffnung mehr, dass der letzte Mann der Richtige für sie war, aber der Vollständigkeit halber beschloss Nele, ihn doch noch zu besuchen. Doch dieses Mal war es ein reiner Freundschaftsbesuch, denn Nele wollte sich nicht erneut in Teufels Küche bringen, die vorangegangene Begegnung war ihr eine Lehre gewesen.
Beeindruckt fuhr sie wenig später bei der Villa vor, in der Julian lebte. Er hatte sich in den letzten Jahren mit einer brauchbaren App fürs Smartphone dumm und dämlich verdient. Er war vor langer Zeit ein Mitschüler von Nele und hatte sie getröstet, als Philipp sie damals verlassen hatte. Kurz ließ sie ihn in ihr Herz, ehe sie beschloss, nie wieder einen Mann zu lieben. Sie wollte bis an ihr Lebensende Single bleiben. Damit waren Julians Chancen bei ihr zunichtegemacht, er war ihr zum falschen Zeitpunkt zugetan. Nele musste über diese Erinnerungen laut auflachen, denn aus heutiger Sicht war ihr Verhalten sehr naiv gewesen. In so jungen Jahren jeglicher Beziehung abzuschwören, war mehr als komisch. Damals hatte sie echt keine Ahnung vom Leben.
Nele versuchte, gefasst zu wirken, und läutete mutig bei dem Haus mit Schlosscharakter an. Ein Butler öffnete und erkundigte sich nach alter Schule nach ihrem Befinden und ihrem Begehr. Es war, als wäre man in vergangene Zeiten zurückversetzt durch sein förmliches Getue. Der Hausdiener führte sie höflich und zuvorkommend zu Julian, der sich über den Besuch durchaus freute. Sofort erkannte er Nele und umarmte sie freudig.
Nach kurzem Small Talk zeigte Julian Nele das Anwesen mit Schwimmbad, Golfplatz und romantisch angelegten Gärten. Prunk erstreckte sich, wohin das Auge reichte, es wirkte wie in einem Märchen. Nebenbei plauderten sie über sein Leben. Er war geschieden, hatte aber keine Kinder, weil seine Ex-Frau wegen ihrer Figur nicht schwanger sein wollte. Er versicherte Nele aber, dass er Kinder liebte und etwas enttäuscht war, weil er keine hatte.
Nele begann unbewusst darüber nachzudenken, ob sie mit Julian einen Volltreffer gelandet hatte. Ihr Vorsatz, nur in freundschaftlicher Absicht zu kommen, war auf einmal wie vom Wind weggeblasen. Blitzschnell, eigentlich viel zu überstürzt, verabredeten sie sich zu einem Dinner in seiner wunderschönen Villa in ein paar Tagen, denn Julian musste noch zu einem Termin im Ausland und vertröstete Nele höflich auf das geplante Wiedersehen. Nele freute sich wie ein kleines Kind. Hochrot vor Nervosität begab sie sich nach Hause. Doch ein leiser Anflug von Panik kroch erneut in ihr Herz. Was dachte sie sich dabei? Wahrscheinlich gar nichts, sonst hätte sie nicht schon wieder alle Register der Hoffnung gezogen, doch noch einen Mann zu finden, der ihr Leben bereichern könnte.
Martha war überrascht, dass Nele sobald zurück war. Auch ihre Söhne Samuel und Jonas wollten noch nicht gehen, denn sie waren gern bei Martha. So blieb Nele auf einen Kaffee und tratschte mit ihrer langjährigen Freundin. Diese warnte sie erneut und holte Nele auf den Boden der Tatsachen zurück, als sie erklärte, dass Julian schon in der Schulzeit sehr eigenartig war. „Pass bloß auf“, waren ihre Worte.
„Ja, du hast ja recht. Aber waren wir nicht alle von der Rolle in unserer Pubertät und benahmen uns wie von einem anderen Stern?“, erwiderte Nele.
„Das schon, aber Julian benahm sich manchmal etwas wie ein Psychopath. Entschuldigung, dass ich das so sage, aber es war echt nicht normal, wie er sich verhielt. Ich hätte ihm eher eine Karriere als Triebtäter zugetraut“, gab Martha eiskalt von sich.
Nele starrte sie ungläubig an. Das war doch nicht ihre warmherzige Freundin, die da sprach! „Bist du eifersüchtig? Oder würdest du mir mein Glück nicht vergönnen, falls Julian doch der Richtige ist?“, fragte Nele patzig.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich möchte dich nur vor einem weiteren großen Fehler bewahren. Ja, es klingt hart, aber ich würde es in Erwägung ziehen, dass es immer noch sein könnte, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat. Weißt du nicht mehr, was damals vorgefallen ist?“, seufzte Martha ehrlich besorgt.
Nele starrte auf ihre Fingernägel und piepste kleinlaut: „Doch. Er hat mich eine Stunde in sein Kinderzimmer gesperrt, weil ich ihm gesagt habe, dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann.“
„Da siehst du es. Das ist nicht normal“, ermahnte Martha sie.
„Aber er hat sich hundert Mal entschuldigt. Außerdem waren wir fast noch Kinder“, rechtfertigte sich Nele.
„Wie du meinst, ich habe dich gewarnt“, sagte Martha mit strengem Blick. Damit war das Thema Julian für diesen Tag abgehakt. Doch das ungute Gefühl in Neles Herzen war ein Stück weit gewachsen. Hatte ihre Freundin doch recht? Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.
Zwei Tage später gab es die nächste Überraschung. Lisa rief Nele aufgeregt in der Pfarre an und berichtete, dass ein Aushilfspriester für die Pfarrgottesdienste und ein paar weitere seelsorgliche Pflichten heute noch zu ihr kommen würde, um Lisas Mutterschutz zu überbrücken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es immer geheißen, dass kein Personal für die Vertretung zur Verfügung stünde.
Na gut, dann musste sich Nele nun neu arrangieren, damit der Geistliche seine Arbeit machen konnte und sie ihm nicht in die Quere kam. Leise schickte sie ein Stoßgebet zu Gott, er möge einen aufgeschlossenen, offenen Priester schicken und keinen verbohrten, der die Zusammenarbeit erschweren würde.
Als es am späten Vormittag dann an der Tür klopfte, meldete sich Nele laut mit einem einfachen: „Herein!“
Als der Geistliche den Raum betrat, blieb Nele unbeabsichtigt der Mund offenstehen. Damit hatte sie nicht gerechnet, vor ihr stand ein junger, dunkelhaariger und hübscher Mann, der höchsten fünf Jahre älter war als sie selbst. Er passte keineswegs in das Bild, das Nele bislang von Priestern hatte. Alle, die sie bis jetzt kannte, waren mindestens über fünfzig Jahre alt.
„Ich bin Pater Nikolaos“, stellte sich der junge Mann schüchtern vor. Nele, die erst jetzt bemerkte, dass sie den Geistlichen peinlich anstarrte, ohne ein Wort zu sagen, löste sich aus ihrer unpassenden eingefroren wirkenden Körperhaltung, gab ihm höflich die Hand und nannte freundlich ihren Namen. Lächelnd und sichtlich erleichtert, dass Nele doch noch reagiert hatte, fügte er hinzu: „Ich bin der Aushilfspriester, ich soll einige Aufgaben der Pastoralassistentin übernehmen, die gerade ein Baby bekommen hat.“
Nele schoss der Gedanke in den Kopf, dass sein Akzent irgendwie süß war. Schnell ermahnte sie sich innerlich, dass man über einen Geistlichen nicht so dachte. Trotzdem fragte sie: „Woher kommen Sie? Also, woher stammt Ihr Akzent?“
„Ich komme ursprünglich aus Griechenland. Darf ich Ihnen das Du anbieten? Es ist mir lieber, weil es persönlicher ist“, sagte er förmlich.
„Ja natürlich. Ich bin Nele.“
Dann zeigte sie ihm das Pfarrheim und die Kirche, damit er seine Arbeit aufnehmen konnte. Sie erklärte die wichtigen und weniger wichtigen Details, wie immer war sie nervös, wenn etwas neu war. Pater Nikolaos machte es Nele aber leicht, seine ungezwungene und lockere Art beeindruckte sie. Er erzählte ihr sogar eine Geschichte über die heilige Lucia, deren Darstellung sich in einem Seitenaltar der Kirche befand. Die Legende über die Lichtbringerin, die schon in so jungen Jahren die Armen versorgte, Trost spendete und ihnen Gottes Wort nahebrachte, beeindruckte Nele noch mehr. Der Priester konnte so lebendig erzählen, dass die Botschaft der Geschichte direkt ins Herz ging. Das war eine Gabe, die ihn sicher zu etwas ganz Besonderem machte. Nele konnte sich vorstellen, dass die Menschen, die hier wohnten, ihn sehr gernhaben