»Amen!« antwortete Seine Hoheit mit der tiefen Stimme eines Kirchenkantors.
Was war nun zu tun, da dieses Grabesschweigen beharrlich fortdauert? Etwa nach San Diego zu weiterzumarschieren? Die Musiker kommen vor Hunger und Erschöpfung bald um. Und dann, welchen Weg sollten sie, ohne Führer und in stockfinstrer Nacht, einschlagen?… Sollten sie vielleicht versuchen, ein anderes Dorf zu erreichen?… Ja, welches denn? Nach Aussage des Kutschers lag kein weiteres an der Küste. Voraussichtlich verirrten sie sich dabei nur noch mehr. Am ratsamsten erschien es, den Tag abzuwarten. Und doch, ein halbes Dutzend Stunden ohne Obdach hinzubringen, unter einem Himmel, der sich mit dicken Wolken überzieht, die früher oder später mit einer Sündflut drohen, das kann man doch niemandem, auch nicht Künstlern, zumuten.
Da kam Pinchinat auf einen Gedanken. Seine Gedanken sind zwar nicht immer die besten, sprudeln aber massenhaft in seinem Gehirn auf. Der jetzige hatte sich übrigens der Zustimmung des weisen Frascolin zu erfreuen.
»Kameraden«, sagte er, »warum sollte das Mittel, das gegen einen wilden Bären von Erfolg war, nicht auch gegenüber einem kalifornischen Dorfe erfolgreich sein? Wir haben jenen Plantigraden durch ein bisschen Musik gezähmt … erwecken wir nun das Landvolk hier durch ein lärmendes Konzert, wobei wir’s an einem Forte und einem Allegro nicht fehlen lassen …«
»Das wäre des Versuchs wert«, meinte Frascolin.
Sébastien Zorn hat Pinchinat nicht einmal seine Worte vollenden lassen, sondern bereits das Violoncell aus dem Kasten geholt, es auf der eisernen Spitze aufgerichtet vor sich hingestellt, und steht, da er keinen Sitz zur Verfügung hat, mit dem Bogen in der Hand schon bereit, dessen klingendem Bauche alle darin aufgespeicherten Töne zu entlocken.
Fast gleichzeitig sind seine Kameraden fertig, seinem Beispiele, wohin es sei, zu folgen.
»Das H-moll-Quartett von Onslow«, ruft er. »Anfangen! Ein paar Takte umsonst!«
Dieses Quartett von Onslow kannten sie auswendig, und geübte Streichmusikanten brauchten gewiss auch keine Beleuchtung dazu, ihre geschickten Finger über das Griffbrett eines Violoncells, zweier Violinen und einer Bratsche gleiten zu lassen.
So folgen sie denn alle ihrer künstlerischen Eingebung. Noch nie haben sie wohl in den Kasinos oder auf den Bühnen des amerikanischen Bundesstaates mit mehr Talent und Innigkeit gespielt. Da ertönt eine wahrhaft himmlische Harmonie, der menschliche Wesen, wenn sie nicht gerade mit Taubheit geschlagen sind, unmöglich widerstehen können. Ja, befanden sie sich auch, wie Yvernes vermutete, auf einem Kirchhof, so hätten sich die Gräber öffnen, die Toten aufrichten müssen, und die Skelette hätten gewiss die Hände zusammengeschlagen …
Und dennoch bleiben die Häuser geschlossen, die Schläfer erwachen auch jetzt nicht. Das Musikstück endigt mit den Prachtsätzen seines mächtigen Finale, ohne dass Freschal ein Lebenszeichen von sich gibt.
»Da sitzt doch der Teufel drin!« polterte Sébastien Zorn auf dem Gipfel der Wut hervor. »Bedarf es denn für die Ohren dieser Wilden eines Charivari, wie für den Bären?… Auch gut, wir fangen noch einmal von vorne an, doch du, Yvernes spielst in D-, du, Frascolin in E- und Pinchinat in G-dur. Ich selbst bleibe in H-moll, und nun aus Leibeskräften los!«
Das gab aber einen Missklang zum Trommelfellzersprengen! Es erinnerte an das improvisierte Orchester, das der Prinz von Joinville dereinst in einem unbekannten Dorfe des brasilianischen Gebietes dirigierte. Es klang, als ob man auf »Essigkannen« eine entsetzliche Symphonie mit verkehrtem Bogenstrich exekutiert hätte.
Pinchinats Gedanke erwies sich übrigens als vortrefflich. Was ein ganz ausgezeichneter musikalischer Vortrag nicht erzielte, das erzielt dieses gräuliche Durcheinander. Freschal fängt an aufzuwachen. Da und dort erhellen sich die Fenster. Die Bewohner des Dorfes sind also nicht tot, da sie jetzt Lebenszeichen verraten. Sie sind auch nicht taub, da sie hören und lauschen.
»Die Leute werden uns mit Äpfeln bombardieren«, sagt Pinchinat während einer Pause, denn trotz mangelndem Einklang des Tonstücks ist dessen Takt doch eingehalten worden.
»O, desto besser; dann essen wir sie«, antwortet der praktische Frascolin.
Und auf Kommando Sébastien Zorns beginnt das kakophonische Konzert von Neuem. Nach Beendigung desselben mit einem mächten »Dis«-Akkord in vier verschiedenen Tonlagen halten die Musiker ein.
Nein, mit Äpfeln wirft hier keiner aus den zwanzig oder dreißig geöffneten Fenstern, sondern laute Beifallsbezeugungen, kräftige Hurras und scharftönende Hips schallen daraus hervor. Die freschalischen Ohren haben sich jedenfalls noch niemals eines solchen musikalischen Hochgenusses erfreut, und es unterliegt keinem Zweifel, dass jetzt jedes Haus willig ist, so unvergleichliche Virtuosen gastlich aufzunehmen.
Doch während diese sich ihrer musikalischen Verzückung völlig hingaben, ist ein Zuschauer und Zuhörer, ohne dass sie seine Annäherung bemerkten, bis auf wenige Schritte herangetreten. Diese aus einer Art elektrischen Kremsers ausgestiegene Persönlichkeit wartet an einer Ecke des Platzes. Es ist ein hochgewachsener wohlbeleibter Mann, soweit das bei der Dunkelheit zu erkennen war.
Während sich dann unsere Pariser Kinder noch fragen, ob sich nach den Fenstern auch die Türen der Häuser öffnen werden, um sie aufzunehmen – was mindestens noch ungewiss ist –, nähert sich der neue Ankömmling noch weiter und spricht in liebenswürdigstem Tone und im reinsten Französisch:
»Ich bin Kunstliebhaber, meine Herren, und eben jetzt so glücklich gewesen, Ihnen Beifall zollen zu dürfen.«
»Während unseres letzten Musikstücks?« erwidert Pinchinat ironisch.
»Nein, meine Herren, während des ersten; ich habe das Quartett von Onslow selten in so vollendeter Weise spielen hören.«
Der Mann ist offenbar ein Kenner.
»Mein Herr«, antwortet ihm Pinchinat im Namen seiner Gefährten, »wir sind Ihnen für Ihre Anerkennung sehr verbunden. Hat unsere zweite Nummer Ihre Ohren zerrissen, so kommt das daher …«
»Mein Herr«, fällt ihm der Unbekannte ins Wort und schneidet