Ich schwieg, starrte Lorelle nur an. Wir saßen vor einem Café, in dem wir oft mit Mark, Uta, Stan und Eric gewesen waren. Gegenüber befand sich die Kirche, wirkte verlassener denn je. Mark war tot.
„Sie sagen, er sei gesprungen.“
„Und?“
„Das hätte er nie getan. Dazu lebte er viel zu gern. Andere sagen, er sei gestoßen worden und ich glaube ihnen.“ Sie senkte den Kopf, ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
„Gestoßen? Warum?“
„Weil er anders war und sie das selbst in diesem Moment der Verzweiflung nicht vergessen konnten. Was spielt das jetzt überhaupt noch für eine Rolle? Er ist tot.“
Mary Chinomba. Eine Pfarrerstochter, die sich so gern als Mann verkleidete, so gern Männerrollen spielte, die kein Interesse an den netten Jungs hatte, die ihre Eltern ihr präsentierten. Die von zu Hause wegrannte und bei ihrem Onkel wohnte, dem Einzigen, der wusste, was oder wer Mary war, und dafür Verständnis hatte. Das Stipendium in Deutschland war für alle Beteiligten die optimale Lösung gewesen, geradezu ein Geschenk Gottes.
„Du hast mir mal erzählt, dass Mark nicht nach Malawi zurückkonnte. Was hast du damit gemeint?“, fragte ich.
„Nachdem sie ungefähr ein Jahr lang in Deutschland gelebt hatte, schrieb Mary ihrem Onkel einen Brief, tat so, als käme er von einem Freund. Darin stand, dass Mary bei einem Unfall ums Leben gekommen und eingeäschert worden sei, weil sich keine Angehörigen gefunden hätten. Sie unterschrieb mit ‚Mark‘. An diesem Tag starb Mary.“
„Glaubte der Onkel ihm … ihr?“, fragte ich.
„Der Brief war eigentlich gar nicht für den Onkel, sondern für den Vater bestimmt. Sie fand, so wäre es für alle Beteiligten das Beste. Mark brach sein Studium in Hamburg ab und wurde zum Nomaden. Er wollte nicht, dass man ihn durch Zufall fand. Wenn ich ihn fragte, ob er eines Tages in die alte Heimat zurückkehre, antwortete er immer mit ‚vielleicht‘.“
Wir saßen da und betrachteten unser kaltgewordenes Essen. Keiner von uns hatte den Wunsch aufzustehen und sich zu verabschieden.
„Erzähl mir, wie du sie kennengelernt hast“, bat ich.
„Ihn“, sagte sie.
„Ihn. Wie hast du ihn kennengelernt?“
Lorelle heiratete mit zweiundzwanzig, gegen den Willen ihrer Eltern. Die Eltern waren in die USA zurückversetzt worden und wollten, dass sie mitkam, aber Lorelle weigerte sich. Nach einigen Jahren wurde ihr Mann, ein DJ, den sie auf einer Party in einem ehemaligen Bunker kennengelernt hatte, gewalttätig. „Er schlug mich. Ich versuchte ein paar Mal, ihn zu verlassen, aber er drohte, er werde mir was antun, wenn ich das durchzöge. Schließlich flüchtete ich nach Berlin, schrieb mich dort an der Uni ein. Gleich am ersten Tag traf ich Mark. Wir wurden Freunde, erst viel später ein Liebespaar. Wir waren das Freakgespann der Uni, die Transvestitin aus Afrika und die Durchgeknallte aus den USA. Mark gab mir den Mut, von Thomas die Scheidung zu fordern. Ich wurde erwachsen. Dank Mark.“
Ich nahm ihre Hand. „Es tut mir so leid.“
Sie nickte.
„Gehst du jetzt zurück nach Amerika?“
„Darüber denke ich schon seit einiger Zeit nach und jetzt das … es kommt mir vor, als hätten die Dinge hier ihren Sinn für mich verloren. Ich möchte meine Eltern wiedersehen, mich ihnen wieder annähern. Wie sieht es bei dir aus?“
„Ich weiß noch nicht recht.“
„Viel Glück jedenfalls. Und wenn du wieder in den USA bist, ruf mich an.“
Ich stieg an der Bushaltestelle bei der Apotheke aus. Gedankenverloren, mit gesenktem Kopf ging ich am Altersheim vorbei, und als ich am Waisenheim vorbeikam, sah ich ihn winkend zur Mauer rennen, sein Gesicht leuchtete vor Begierde wie auf Ginas Gemälde. „Schokolade!“ Ich wandte das Gesicht ab und beschleunigte meinen Schritt, blieb dann aber stehen und drehte mich zu ihm um. Seine Hartnäckigkeit war bewundernswert. Ich hob die Hand und winkte zurück. Er stand da, beide Hände auf die Mauer gestützt, genau wie auf dem Gemälde, und sein Schreck verwandelte sich in Entzücken, als ich „Hallo“ zurückrief.
Langsam nahm er die Hände von der Mauer, drehte sich um und ging zurück zu seinen Freunden. Den Kopf noch immer voller Gedanken setzte ich meinen Heimweg unter den Pappeln fort.
„Der Sommer ist dahin, die Ernte ist vergangen, und uns ist keine Hilfe gekommen.“ Diese Zeile ging mir nicht aus dem Kopf. Ich sah Mark, wie er seinen Vater imitierend hinter dem Lesepult stand und die Faust auf den grünen Filz donnern ließ, sein Blick über die Phantasiegemeinde wanderte.
„Ich gehe nicht zurück“, sagte ich zu Gina. Zwar hatte ich nicht darüber nachgedacht, aber sobald ich es gesagt hatte, wusste ich, dass ich das schon vor langem beschlossen hatte. Ich würde in Berlin bleiben, zumindest noch eine Zeitlang. Meinen Lebensunterhalt konnte ich einige Monate mit Englisch-Unterricht bestreiten, während ich überlegte, wie es weiterging. Ich konnte auch an meiner sträflich vernachlässigten Dissertation arbeiten. Gina saß mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa. Sie wirkte nicht überrascht. Ich dachte an unsere Wohnung in Arlington. An den Parkplatz gegenüber und wie wir auf dem Balkon gesessen und die Kinder mit ihren Skateboards beobachtet hatten. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein; in letzter Zeit konnte ich mich in diesem Bild nicht mehr sehen. Gina saß allein da.
„Wir waren einmal so glücklich“, sagte sie. Und ich wusste, damit meinte sie vor der Fehlgeburt. „Ich dachte, wenn wir gemeinsam nach Berlin gehen, weg von allem … ich dachte, in Berlin würde alles wie früher.“
Sie seufzte. Stille breitete sich aus, nur von gelegentlichem Vogelgesang unterbrochen. Vielleicht brauchten wir genau das, Stille. Eine Zeitlang Abstand. Sie sah mir geradewegs in die Augen und nickte. Aus einem der Bäume erklang der unverkennbare Ruf eines Kuckucks. Ich ging ans Fenster und sah nach oben. Ein Zwitschern, ein grauweiß-getüpfeltes Flügelschwirren. Dann war er weg.
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