„Von Abu-Jamal habe ich heute zum ersten Mal gehört.“
„Wie denn auch?“, lachte Mark. Er wirkte aufgekratzt. „Du wohnst mit deiner schönen Frau in einem großen Haus. Du lebst in Amerika, wo jeder ein Filmstar ist und einen Riesenschlitten fährt.“
„Bei dir hört sich das an, als wäre es eine Sünde oder eine Krankheit, in einem großen Haus zu wohnen.“
„Na ja, ich würde mir keinen Film über Menschen, die in großen Häusern leben, ansehen, über sie auch keine Filme drehen.“
„Das ist fast ein Manifest. Was für Filme würdest du denn machen?“
„Ich sage dir, welche Art Filme ich machen würde. Über einen Mann in einem Tunnel. Einem langen, endlosen Tunnel, an dessen Ende seine Geliebte wartet, aber allmählich begreift er, dass nicht nur seine Geliebte, sondern auch der Tod wartet. Aber wir sehen nie, wie er die Geliebte oder den Tod erreicht, nur eine einzige, lange Einstellung auf ihn im Tunnel, mehr nicht. Es geht um die Reise selbst. Die Ungeheuer, die sich aus der Dunkelheit auf ihn stürzen, existieren sämtlich nur in seiner Phantasie.“
Ich nickte. „Hübsche Allegorie für die menschliche Natur. Schönheit und Tod, Seite an Seite. Wir alle stecken in einem Tunnel, die Liebe treibt uns voran, aber Liebe bedeutet gleichzeitig auch Tod. Begehren heißt sterben.“
„Ja, und nicht zu lieben, bedeutet auch zu sterben“, sagte Mark, ließ Lorelles Hand los und beugte sich vor zu mir. „Wenn ich meinen Film mache, wird der ziemlich avantgardistisch. Marechera. Dostojewski. Caravaggio. Knut Hamsun. So avantgardistisch, dass es einem beim Zuschauen das Herz abdrückt. Was ist der Sinn von Kunst, wenn nicht Widerstand?“
„Widerstand wogegen?“
„Einfach nur Widerstand. Aus Prinzip.“
„Und solche Filme willst du machen?“
„Das ist das Leben, das ich führen will. Kunst und Leben werden eins.“
„Warte nur, bis du älter bist und verheiratet, Kinder hast und Rechnungen bezahlen musst.“
Lachend zuckte er die Achseln. „Vielleicht kommt es dazu ja nie.“
Lorelle hörte zu, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und rauchte eine Zigarette. Sie beugte sich vor. „Mark hat einen Kurzfilm gedreht, der hat eine Auszeichnung bekommen.“
Mark hatte einen Film gemacht? Man sah mir meine Überraschung wohl an. Mark lachte und schob Lorelle beiseite. „Ein Kurzfilmchen. Dreißig Minuten lang. Habe ich vor zwei Jahren für ein Seminar gemacht.“
„Aber er hat hier in Berlin einen Regiepreis gewonnen.“
„Toll“, sagte ich. „Über einen Mann in einem Tunnel?“
„Du musst ihn dir ansehen. Ich habe eine Kopie, die kann ich dir leihen“, sagte Lorelle.
Ich wollte mich mit Mark unterhalten, welche Möglichkeiten er jetzt noch hatte, nachdem sein Antrag auf Visumsverlängerung abgelehnt worden war, aber er schien an dem Thema nicht interessiert, und vielleicht war dies ohnehin nicht der richtige Ort.
„Versuch mal, Julius, diesen Anwalt, anzurufen. Wenn möglich, noch heute. Er hat versucht, dich zu erreichen.“ Er nickte und wechselte plötzlich das Thema. „He, hast du nächste Woche Zeit? Da gibt es einen Schallplattenladen, den musst du dir unbedingt ansehen. Der ist gigantisch, der größte in Berlin, vielleicht in ganz Europa.“
„Ich habe Zeit.“
„Gut, dann gehen wir drei dorthin. Danach können wir was essen. Abhängen.“
„Super Idee, aber versprich mir, dass du nicht wieder abtauchst“, sagte ich.
Mark hob sein Bier und zitierte lachend Shakespeare: „When shall we three meet again, in thunder, lightning, or in rain …?“
Er sah glücklich aus und so würde ich ihn immer in Erinnerung behalten, nach vorn gelehnt, um mir zuzuprosten, Lorelle an seiner Seite, denn wie sich herausstellte, war dies unser letztes Zusammentreffen zu dritt.
„When the hurly-burly’s done, when the battle’s lost and won“, ergänzte ich automatisch.
11
Am Tag nach unserem Treffen im Kino brachen die Flüchtlingsunruhen aus, wie es die Zeitungen später nannten. Die Heimbewohner wachten auf und fanden das Gebäude von Polizisten umstellt, die Streifen- und Mannschaftswagen versperrten sämtliche Straßenzugänge. Neben den Mannschaftswagen standen von der Bezirksverwaltung gestellte Doppeldeckerbusse. Einer der Polizisten forderte die Bewohner über ein Megafon auf, ihre Sachen zusammenzupacken und das Gebäude zu räumen – sie hätten sechs Stunden Zeit. Offenbar hatten sich Anwohner bei der Bezirksverwaltung beschwert, sie fühlten sich bedroht, ihre Töchter und Söhne seien nicht mehr sicher auf den Straßen, wo Flüchtlinge Drogen verkauften und sich besoffen prügelten; die Fremden hätten die gesamte Straße in eine Müllhalde verwandelt, überall liege Abfall. Sechs Stunden für die Räumung. Die Busse sollten die Bewohner in ein anderes, außerhalb der Stadt gelegenes Flüchtlingsheim bringen, in der Zwischenzeit durfte niemand das Gebäude betreten oder verlassen. Um die Räumung zu beschleunigen, wurden Wasser und Strom abgedreht. Doch bald hatten Aktivisten in der Innenstadt von der Blockade gehört und versammelten sich auf der Straße, bildeten eine Menschenkette um den Block, solidarisierten sich in Sprechchören mit den Bewohnern und riefen, die Polizei solle abhauen.
„Mark hatte mir eine SMS geschrieben. Als ich ankam, war die Stimmung aufgeheizt. Die Polizei hatte bereits Tränengas gegen die Aktivisten eingesetzt und sie aufgefordert, sich fern zu halten. Sie ließen uns nicht durch die Absperrung“, berichtete Lorelle.
„Wohin hat man sie denn gebracht?“
„Nirgendwohin. Das ist ein beliebter Trick von ihnen. Sie stopfen die Migranten in Busse, mit dem Versprechen, sie anderswo unterzubringen, und setzen sie dann außerhalb der Stadt mitten im Nirgendwo ab.“ Sie nippte an ihrem Tee, als wollte sie den bitteren Geschmack hinunterspülen. „Wie kann man hilflosen Menschen nur so was Grausames antun? Weißt du, was auf den Bussen steht?“
„Was?“
„Fahren macht Spaß. Drumrum Bilder von glücklichen Familien Hand in Hand – Kinder und Eltern und obendrein ein Hund. Der reinste Hohn.“
„Was ist mit Mark passiert?“, fragte ich.
„Ich habe ihn pausenlos angerufen, aber er ist nie rangegangen, daher hoffte ich, dass es ihm irgendwie gelungen ist, sich rauszumogeln.“ Lachend schüttelte sie den Kopf. „Reines Wunschdenken. Mark würde so was nie machen. Er liebt solche Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit. ‚Das ist unser historischer Moment‘, sagte er in solchen Situationen immer, ‚das ist unser Sharpeville, unser Agincourt.‘ Er war da drinnen, hatte sich mit den anderen verbarrikadiert. Sie haben die Türen von innen zugesperrt, mit Metallbetten und Tischen verrammelt, damit die Polizei sie nicht aufbrechen kann. Wir konnten sie an den Türen und Fenstern sehen, wie sie ihre T-Shirts schwenkten und sich an den Händen hielten. Die Polizei meinte, sie warten so lange, bis die da drin aufgeben. Es hat drei Tage gedauert.“
„Aber davon kam gar nichts in den Nachrichten …“
„Die bringen nur das in die Nachrichten, was sie bringen wollen“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. „Ich war dort. Geh ins Internet, sieh dich auf alternativen Nachrichtenportalen um, da findest du alles. Am dritten Tag, als die Polizei von der Pattsituation die Nase voll hatte und drohte, sie mit Gewalt rauszuholen, übergossen die Flüchtlinge ihre Matratzen, ihr Bettzeug und die Fußböden mit Benzin und verkündeten, sie würden sich samt dem Gebäude anzuzünden. Manche gingen aufs Dach hoch und drohten, sie würden runterspringen. Mark war mit auf dem Dach. Ich erkannte seine Jacke.“
„Was