„Ja. Welche Glaubensgemeinschaft?“
„Seine Pfarrei gehörte zur Pfingstbewegung, eine der wenigen in Lilongwe. Als ich kleiner war, hat er mich ermuntert, bei der Kirchentheatergruppe mitzumachen. Ich habe es geliebt, hatte schon früh eine Neigung dazu. Wir spielten hauptsächlich biblische Geschichten nach. Ich liebte es, auf der Bühne zu stehen, liebte die Macht, die Gemeinde mit meiner Tollpatschigkeit, mit Worten und Gesten zum Lachen oder zum Weinen zu bringen. Ich spielte immer die Hauptrolle. Einmal war ich der Verlorene Sohn, der ausgestoßen wurde und mit den Schweinen aß und bei der Heimkehr von seinem Vater mit offenen Armen aufgenommen wurde, dann wieder war ich Josef, den seine Brüder in den Brunnen geworfen hatten. Ich kann verstehen, warum Schauspieler manchmal schizophren werden. Man geht so leicht in der Rolle auf und sich davon zu lösen, ist problematisch. Ich war jeweils felsenfest davon überzeugt, dass ich diese Person war. Wahrscheinlich bin ich schon damals vor etwas geflüchtet, wovor, weiß ich nicht. Meine Kindheit, das war nur die Kirche, keinerlei andere Interessen. Während meine Freunde draußen herumstromerten, Sport trieben und andere Hobbys entdeckten, blieb ich in der Kirche, immer unter dem wachsamen Auge meines Vaters. Mehr gab es in meiner Kindheit nicht. Als ich mit der weiterführenden Schule fertig war, wollte ich natürlich Schauspiel studieren, aber das kam für meinen Vater nicht in Frage.“
„Warum?“
Mark zog aus seiner Jackentasche eine Zigarettenschachtel heraus. Wir stellten uns auf den Balkon und rauchten. „Schauspieler in der Kirche zu sein, war okay, aber außerhalb nicht. Schauspieler sein heiße, eine Lüge zu leben, behauptete er. Mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen sein Geld zu verdienen. Gottlos, nannte er es. Aber mit Hilfe meiner Mutter gelang es mir doch. Ich lud die gesamte Familie zu meinem ersten Auftritt ein. Ich spielte die Hauptrolle in Sizwe Bansi ist tot von Athol Fugard. Da war ich neunzehn. Ich hatte mich enorm ins Rollenstudium reingekniet, damit ich den passenden Tonfall, die entsprechenden Bewegungen fand. Aber trotzdem konnte ich, sogar von der Bühne aus, die Enttäuschung im Gesicht meines Vaters sehen.“
„Was genau hat ihm denn missfallen?“, fragte ich.
Mark nahm einen tiefen Zug, lehnte sich dann über die Balkonbrüstung und schnipste die Kippe weg. „Er meinte, es bringe Schande über die Kirche. Es sei zu weltlich. Dazu muss man wissen, dass mein Vater für die Kirche, für die Bibel lebte, das war sein gesamter Lebensinhalt. Ich war dermaßen enttäuscht, dass ich nicht mehr nach Hause fuhr. Während der Semesterferien wohnte ich bei Freunden und wir spielten in kleinen Theatern, in Nachtclubs und auf der Straße und verdienten genug für unseren Unterhalt. Es machte Spaß. Meine Mutter besuchte mich und flehte, ich solle heimkommen. Ich weigerte mich. Nach Abschluss des Studiums ging ich zu Onkel Stanley, dem jüngsten Bruder meines Vaters, nach Südafrika. Er unterrichtet an der Uni und ist das genaue Gegenteil meines Vaters. Ich bin nie wieder nach Hause gegangen. Er war derjenige, der vorschlug, ich solle ins Ausland gehen und dort weiterstudieren. Er hat mich mit seinem Freund am Goethe-Institut in Johannesburg verdrahtet. Ich schrieb mich dort für einen Deutschkurs ein und bewarb mich für ein Stipendium, damit ich hier weiterstudieren konnte. Eins ergab einfach das andere.“
„Hast du je daran gedacht, zurückzugehen?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln. „Hin und wieder. Meine Mutter fehlt mir. Und mein Onkel und seine Frau, deren Kinder, meine Geschwister. Aber ich und Rückkehr – eher nicht. Zumindest nicht in nächster Zeit.“
Ich wollte auf das, was der Anwalt gesagt hatte zu sprechen kommen, doch zu meiner Überraschung sagte Mark, er müsse jetzt gehen.
„Wie, du gehst jetzt?“
„Schau mal, ich bin mir nicht sicher, ob deine Frau es so gut findet, dass ich hier bin. Ich habe das schon letzte Nacht gemerkt. Und heute früh hat sie nicht mal auf mein Guten Morgen reagiert.“
Ich entschuldigte mich. „Aber du musst wirklich nicht gehen. Gina ist momentan einfach nur mit den Gedanken woanders …“
„Schon gut“, sagte er. „Ehrlich. Ich weiß zu schätzen, was du alles für mich getan hast.“
Ich kam mir wie Judas vor, als ich Mark zur Bushaltestelle begleitete, war aber gleichzeitig auch erleichtert, ein Gefühl, das ich zu unterdrücken versuchte. Er meinte, er könne bei Freunden unterkommen und wenn das nicht klappe, gebe es immer noch das Flüchtlingsheim. Ich umarmte ihn, eine Judasumarmung, und sah ihm nach, wie er durch eine Verkehrslücke rannte, wobei der Wind seine alberne Jacke hochwehte. Während der letzten Wochen hatte er abgenommen. Er erwischte den M400-Bus und als dieser losfuhr, sah ich Mark am Fester des Oberdecks winken. Mit bleierner Hand winkte ich zurück und schleppte mich schweren Herzens nach Hause. Alles veränderte sich. Das Laub an den Bäumen, die Kleider in den Schaufenstern. In der Luft lag eine fast kaum wahrnehmbare Kühle. Ich dachte an zu Hause und den Harmattan im November, der mich fast immer krank gemacht hatte, meine Mutter meinte, das sei, weil mein Körper auf den Wechsel der Jahreszeiten reagiere. Unsere Körper wollten, träge wie sie seien, immer am Gewohnten festhalten. Ich hatte mit meiner Mutter schon länger nicht mehr telefoniert. In meiner Anfangszeit in Amerika rief ich sie jeden Sonntag an, verplauderte Fünf-Dollar-Telefonkarten, der Hörer wurde an meinen Vater weitergereicht, an meine Schwester und beide Brüder. Eigentlich sollte ich nach meiner Dissertation heimkehren, doch dann traf ich Gina und aus Tagen wurden Monate, aus Monaten Jahre und dann hörte ich auf, daheim anzurufen. Bei meinem letzten Anruf vor einem Jahr, hörte sich meine Mutter derart distanziert an, als würde sie mit einem Unbekannten übers Wetter reden. Ich reichte den Hörer an Gina weiter, aber meine Mutter hatte Probleme, Ginas amerikanischen Akzent zu verstehen, daher dauerte der Anruf nur wenige Minuten. Ich dachte daran, wie es gewesen war, bevor Gina schwanger wurde. Abends saßen wir oft auf dem Balkon, tranken Weißwein und beobachteten den leeren Parkplatz auf der anderen Straßenseite, die Kinder, die auf ihren Skateboards über den Asphalt tretrollerten, den Gehweg entlangdonnerten, mit den an ihren Schuhsohlen festklebenden Brettern hoch in die Luft sprangen, jedes erfolgreiche Kunststückchen mit einem High-five feierten. Ich war so gedankenversunken, dass ich in eine Frau hineinrannte, die eine Schaufensterauslage betrachtete, kurz darauf in einen Mann. Ich war zum ersten Mal in dieser Straße, kannte weder die Namen der Läden noch eventuelle Sehenswürdigkeiten. Der Mann war hochgewachsen und trug eine modische Lederjacke. Er fasste mich am Ellbogen und rüttelte mich aus meiner Tagträumerei. „He, pass auf!“ Ich nickte und ging weiter.
9
Eine Woche nachdem ich Mark zur Bushaltestelle begleitet hatte, wurden meine Fragen beantwortet. Es war der Tag, an dem Ginas Vernissage in der Zimmer-Galerie stattfand, die irgendwo in der Karl-Marx-Straße lag. Gina hatte sich damals jeglichen Kommentar verkniffen, als sie zurückkam und Mark nicht mehr da war. Unser Leben nahm seinen normalen Rhythmus auf. Wir gingen Abendessen, besuchten Ausstellungseröffnungen, Lesungen und Darbietungen von Ginas Künstlerkollegen. Sie sah glücklich aus, als sie die Besucher von Gemälde zu Gemälde führte, Fragen zu Farbe, Technik und Konzept beantwortete. Im Hintergrund lief getragene Instrumentalmusik, sämtliche Zimmer-Künstlerkollegen waren gekommen. Die Vernissage würde sich über den ganzen Tag erstrecken. Ich stand in einer Ecke, versuchte, mich nützlich zu machen, plauderte mit Julia, der Zimmer-Direktorin, einer großen, schlanken, bescheidenen Frau, mit ihrem Lebensgefährten Klaus, einem Brocken von Mann, der den Riesling hinunterkippte wie Wasser. Ich war seit drei Stunden da, ich war müde und hungrig und überlegte, ob ich irgendwo essen gehen sollte. Ich brauchte etwas Handfesteres als das angebotene Fingerfood und wollte Gina fragen, ob sie mich begleiten würde. Da kam in Begleitung dreier Personen ein Mann herein, der mir bekannt vorkam. Er erkannte mich gleichzeitig, löste sich aus seiner Gruppe und kam herüber. Es dauerte kurz, bis ich ihn einordnen konnte. Es war Julius, der Anwalt. In Jeans und T-Shirt sah er anders aus. Das hier sei die Vernissage meiner Frau, erklärte ich ihm.
Er sah beeindruckt aus. „Meine Lebensgefährtin hat mir von der Ausstellung erzählt.“ Er deutete auf eine der jungen Frauen, die Jeans und Bomberjacke trug. „Übrigens hätte ich Sie morgen angerufen. Ich muss mit Mark reden. Wohnt er noch bei Ihnen?“
„Nein. Alles in Ordnung?“
„Ich