Luramos - Der letzte Drache. Carina Zacharias. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carina Zacharias
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783960743767
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zog.

      Kurz musterte der Magier den Gnom vor sich, der ihm aufrecht stehend gerade bis zur Hüfte reichte. Mit seinem schmächtigen, sehnigen Körper, der grauen Haut, den kleinen Ohren und gelben Augen unterschied er sich zunächst nicht von all den anderen Gnomen. Erst auf den zweiten Blick fiel der Halbmond an seiner rechten Schläfe auf. Das Brandmal, mit dem die treuesten Gefolgsleute des Magiers gekennzeichnet waren.

      „Ja, das habe ich.“ Der Magier umschloss mit den Händen die Lehnen seines Throns und beugte sich vor, ehe er mit lauter Stimme sprach: „Die Zeit ist gekommen. Du weißt, was du zu tun hast.“

      Einen Herzschlag lang starrte Raklin seinen Meister mit großen Augen an, dann verzog sich sein lippenloser Mund zu einem fratzenhaften Lächeln, das zwei Reihen rasiermesserscharfer Zähne entblößte. „Ja, Meister.“

      „Sammle deine Gefährten um dich. Ihr werdet noch diese Nacht aufbrechen!“

      „Ja, Meister!“ Noch einmal verbeugte sich der Gnom demütig, dann ließ er sich wieder auf alle viere nieder und hastete aus der Halle.

      Der Magier lauschte dem Kratzen seiner Krallen, bis sie nicht mehr zu hören waren. Dann erhob er sich langsam und ging auf eine Glastür an der linken Wand der Halle zu, die auf einen kleinen Balkon führte. Gierig sog er die kühle Nachtluft ein, als er hinaus und an das steinerne Geländer trat. Der Mond stand am Himmel und sein silbernes Licht fiel auf das mächtige Schloss und die kahlen Berge ringsherum. Und auf eine kleine Schar von Gnomen, die weit unter ihm aus dem Schloss lief und hinter einer Kurve dem Blick des Magiers entschwand.

      Eine Weile stand der Magier nur ganz still da und schaute in die Nacht hinaus. Dann krallten sich seine Finger in das Geländer und ein glucksendes Kichern drang aus seiner Kehle, das bald in einem unkontrollierbaren Lachanfall endete. Er warf seinen Kopf in den Nacken und lachte. Er lachte sein wahnsinniges Lachen ohne jeden Frohsinn und er war unfähig, damit wieder aufzuhören. Der Wind trug sein Lachen noch weit über die schneebedeckten Berge, bis endlich die Dämmerung aufzog und mit den ersten Sonnenstrahlen auch wieder Ruhe einkehrte.

      *

      Die Versammlung

      Ralea drückte sich mit dem Rücken so eng wie möglich an eine Hauswand. Am liebsten wäre sie darin verschwunden. Mit offenem Mund beobachtete sie das Treiben vor sich auf der Straße. Sie hatte noch nie so viele Menschen gesehen! Es wurde gedrängelt, geschubst und geflucht, während sich diese riesige Menschenmasse Richtung Marktplatz schob.

      „Ralea!“ Ein Mädchen schälte sich aus den eng zusammengedrängten Leibern und kam auf sie zu.

      „Lora!“, rief Ralea erleichtert. Die Freundinnen umarmten sich, gaben sich gegenseitig Halt und Zuversicht durch diese kurze Berührung, ehe sie sich wieder voneinander lösten.

      „Komm, lass uns zum Marktplatz gehen. Vielleicht können wir noch einen halbwegs guten Platz ergattern.“

      Widerwillig nickte Ralea und ließ es geschehen, dass Lora sie an der Hand fasste und hinter sich herzog, während sie sich durch die Menschenmasse drängelte.

      Ihr Dorf war für die Versammlung ausgewählt worden, da es das größte der Menschendörfer war. Doch … doch nun waren fast alle Menschen, die nicht weiter als eine Tagesreise entfernt wohnten, hierher geströmt, um dabei sein zu können ... und solch einem Ansturm war es allem Anschein nach nicht gewachsen.

      Mittlerweile hatten sie den Marktplatz erreicht. Ralea stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Leute hinweg schauen zu können, und erhaschte einen Blick auf ein behelfsmäßiges Podium, das in der Mitte des Platzes aufgebaut worden war und auf dem nun die acht Dorfobersten auf einfachen Stühlen Platz genommen hatten – je ein Repräsentant für jedes der Menschendörfer, die umgeben von dichtem Wald im Süden Romaniens lagen.

      „Komm“, sagte Lora. „Wir schlagen uns weiter nach vorne durch.“

      Eigentlich hatte Ralea wenig Lust dazu, am liebsten wäre sie gleich umgekehrt und nach Hause gerannt. Ihr war das alles viel zu eng, von allen Seiten wurde sie angerempelt und geschubst und selbst das Atmen fiel ihr schwer. Doch Lora hatte schon wieder ihre Hand ergriffen und Ralea seufzte resigniert, während sie hinter der Freundin herlief. Es war schon immer so gewesen, dass Lora die Forschere und Selbstbewusstere von ihnen gewesen war, während Ralea als ruhig und besonnen galt. „Gegensätze ziehen sich nun mal an“, so hatten die alten Frauen ihre innige Freundschaft stets kommentiert. Und das galt nicht nur für ihren Charakter, sondern auch für ihr Aussehen. Lora zog mit ihrem seidigen blonden Haar und ihren tiefblauen Augen seit einiger Zeit die Blicke der Dorfjungen auf sich. Ralea empfand sich selbst nicht als schön. Ihre braunen Haare waren ihr viel zu widerspenstig, ihre Lippen nicht voll genug und ihre Augen waren zwar von einem schönen Braun, doch ihre Wimpern viel zu kurz.

      Einige Rempler, wüste Beschimpfungen und Fußtritte später standen die Mädchen so weit vorne, dass sie einen guten Blick auf das Holzpodium hatten. Ein paar Reihen weiter vor ihnen verlief eine niedrige Mauer aus aufeinandergeschichteten Strohballen. Dahinter standen die wackeren jungen Männer, die sich freiwillig zur Wahl gestellt hatten, mit hoch erhobenem Haupte und schauten zu dem Podium vor ihnen auf oder auf die Menschenmasse hinter ihnen. Überrascht bemerkte Ralea auch einige Frauen und ältere Männer unter ihnen. Auch Loras ältester Bruder Limon gehörte zu den mutigen Abenteurern. Lora schien ihn entdeckt zu haben und rief immer wieder seinen Namen, bis er sich umdrehte und ihnen zuwinkte. Ralea winkte lächelnd zurück. Dann drehte sie sich um und ließ ihren Blick über die vielen Köpfe hinter sich schweifen, in dem vergeblichen Versuch ihre Eltern zu entdecken.

      Dabei stellte sie erleichtert fest, dass die nachrückenden Menschen nicht mehr versuchten sich noch mit auf den Markt zu drängeln, sondern stattdessen anfingen, auf die Dächer der umliegenden Häuser zu klettern. Auch wenn es vielleicht albern war, hatte Ralea unterbewusst die Angst gehegt, an einer Hauswand zerquetscht zu werden.

      „RUHE!“

      Ralea fuhr herum. Der Dorfoberste ihres Dorfes war aufgestanden und hatte sich in die Mitte des Podiums gestellt. Neben ihm stand ein leerer Stuhl, doch machte er keine Anstalten, sich darauf zu setzen. Noch zwei weitere Male musste er brüllen, ehe wirklich Ruhe einkehrte. Es war geradezu unheimlich, so viele Menschen um sich zu wissen, die alle schwiegen und ihre Aufmerksamkeit einem einzigen Mann schenkten. Die Spannung in der Luft war zum Greifen.

      „Ist das aufregend!“, flüsterte Lora.

      Ralea nickte nur.

      „Meine Damen und Herren!“, begann der Dorfoberste etwas unbeholfen und nestelte an seinem Hemd herum, das sich über einem stattlichen Bauch wölbte. „Ihr alle wisst, warum wir uns hier versammelt haben. Heute ist ein ganz besonderer Tag, über den noch in vielen Jahrhunderten berichtet werden wird. Seid euch eures Glücks bewusst, in solch einer bedeutsamen Zeit leben zu können und dies miterleben zu dürfen!“ Er wandte sich um und wies zum Fuß der Treppe, die zum Podium hoch führte. „Ich übergebe nun das Wort an Morgana, die Geschichtenerzählerin unseres Dorfes!“

      Ralea stieß einen überraschten Laut aus und auch Lora neben ihr riss erstaunt die Augen auf, als der Dorfoberste sich zurückzog und stattdessen eine zierliche alte Frau in bunt zusammengewürfelten Kleidern und Tüchern und mit einem Gehstock in der rechten Hand mühsam die wenigen Stufen hochstieg. Sie nahm wie selbstverständlich auf dem Stuhl in der Mitte des Podiums Platz. Lora und Ralea kannten Morgana gut. Als sie noch jünger gewesen waren, hatten sie jeden Tag so lange gebettelt und gefleht, bis die alte Frau ihnen eine Geschichte erzählt hatte. Oft hatte die Ärmste zunächst geflucht, die Kinder zum Teufel gewünscht und gesagt, sie habe Besseres zu tun, doch am Ende hatte sie sich immer erweichen lassen, und wenn sie erst einmal angefangen hatte, verlor sie sich meist selbst in ihren fantasievollen Geschichten. Diese handelten von mutigen Helden und Abenteuern, sodass manchmal Stunden verstrichen, ohne dass sie oder eines der Kinder es bemerkten.

      Ralea schmunzelte. Sie dachte gerne an diese Zeit zurück. Manchmal hatten bis zu zwanzig Kinder in einem Kreis um