»Wir haben wohl vergebens gewartet«, sagte Sebastian Trenker.
Der junge Bauer schaute ihn fragend an.
»Und nun?«
»Tja, das ist eine gute Frage. Am besten fahren wir ins Dorf zurück und kommen morgen wieder her«, antwortete der Bergpfarrer.
»Na, das kann ja was werden!« stöhnte Max auf.
»Immerhin haben wir’s versucht«, tröstete sein Bruder ihn. »Vielleicht haben wir ja in der nächsten Nacht mehr Glück.«
Sie verabschiedeten sich von dem Bauern. Vinzent winkte ihnen hinterher und ging in den Stall. In einer knappen halben Stunde hätte er ohnehin aufstehen müssen, da spielte es keine Rolle, wenn er jetzt schon mit der morgendlichen Arbeit begann.
Sebastian, Max und Thomas fuhren ins Dorf hinunter. Sie alle waren enttäuscht, daß Franz Gruber nicht aufgetaucht war, wie sie es vermutet hatten.
»Vielleicht hat er sich anders überlegt und ist längst auf dem Weg nach Hause«, sagte Thomas.
Aber er glaubte nicht wirklich daran.
»Bestimmt net!« Pfarrer Trenker schüttelte den Kopf. »Er hat sich ja was vorgenommen, und die Geschichte mit der Schrift auf der Hauswand war nur ein erster Schritt. Wenn ich bloß wüßt’, was er als nächstes vorhat…«
Müde und enttäuscht gingen sie in ihre Betten. Während Sebastian und Max keine Probleme hatten, sofort einzuschlafen, lag Thomas Gruber noch lange wach. Er dachte an den Mißerfolg ihrer nächtlichen Unternehmung und an das Madl aus dem Kaffeegarten. Als er dann endlich hinübergeschlummert war, hatte er einen seltsamen Traum, in dem sowohl Franzi, als auch sein Vater eine Rolle spielten.
Aber daran erinnerte er sich, als er wieder aufwachte, nur noch bruchstückhaft.
*
Franz Gruber hatte die Nacht in der Hütte verbracht. Nachdem er den ganzen Tag darüber nachgedacht hatte, wie es weitergehen sollte, entschied er, sich erst einmal ruhig zu verhalten. Wahrscheinlich, vermutete er, würde man auf dem Hirschlerhof damit rechnen, daß er wieder zurückkam, und ihm eine Falle stellen. Er konnte sich gut vorstellen, wie wütend der Altbauer und dessen Familie auf ihn sein mußten, als sie seine Anklageschrift entdeckt hatten.
Nachdem er festgestellt hatte, daß seine Vorräte zu Ende gingen, war er gezwungen gewesen, doch hinabzusteigen und sich Essen und Trinken zu besorgen. Allerdings war er nicht nach Engelsbach gegangen, sondern in das weiter entfernte Waldeck gewandert. Das waren zwar mehr Kilometer gewesen, hatte aber den Vorteil gehabt, daß Gruber die meiste Zeit durch Wald und Wiesen gehen konnte, anstatt auf der Landstraße, wo er leichter hätte entdeckt werden können.
In Waldeck deckte er sich erst einmal mit allem ein, was er brauchte, um die kommenden Tage versorgt zu sein, und trank im Gasthaus ein Kännchen Kaffee. Er überlegte, wie er es einrichten konnte, sich in der Hütte auch etwas Warmes zu kochen. Aber diese Möglichkeit schied aus. Feuer konnte er darin nicht machen, und einen Gaskocher, wie er beim Camping benutzt wurde, gab es nicht zu kaufen.
Die Nacht verbrachte er mit Schlafen und Wachen. Immer wieder öffnete er die Augen und starrte in die Dunkelheit. Dummerweise hatte er vergessen, neue Batterien zu besorgen, so daß er gezwungen war, die in der Taschenlampe zu schonen. Als dann endlich der Morgen graute, machte er sich auf den Weg zu der Lichtung, wo er sich niederließ und endlich für ein paar Stunden einschlief.
Als er erwachte und auf die Uhr schaute, stellte Gruber fest, daß es Mittag war. Er aß etwas Brot und Dauerwurst und trank eine Flasche Bier dazu. Dann stand er auf, reckte sich und überlegte, was er anfangen sollte.
Der Anschlag mit der roten Farbe sollte nicht die einzige Maßnahme bleiben, die er unternehmen wollte. Aber noch einmal würde er nachts nicht zum Hirschlerhof schleichen. Es mußte etwas geben, das sich auch am Tage machen ließ, um Hubert Hirschler in die Knie zu zwingen.
Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, packte er seine Sachen zusammen und brachte sie in die Hütte zurück. Dann machte er sich auf und verließ den Wald. Schon bald konnte er den Bauernhof sehen. Dort rührte sich nichts. Franz Gruber setzte sich auf einen alten Baumstamm, der am Wegesrand lag und schaute sehr lange hinunter. Niemand war zu sehen, der Hof lag da wie ausgestorben. Schließlich stand er wieder auf und ging weiter. Sein Ziel war aber nicht der Bauernhof, sondern die Weide, die in einiger Entfernung davon lag. Dort weideten die Kühe. Gruber ging an den Zaun heran, der die Tiere daran hindern sollte, von der Weide zu laufen und öffnete das Tor. Mit fuchtelnden Armbewegungen trieb er die Kühe nach draußen, wo die verwirrten Viecher ziellos durcheinanderliefen.
Grinsend schaute der Mann zu.
Da werdet ihr ein schönes Stück Arbeit haben, die wieder einzufangen, dachte er und rieb sich die Hände. Aber wem ihr das zu verdanken habt, wißt ihr ja.
Als er in sein Versteck zurückging, lachte Gruber immer noch vor sich hin. Daß er am Tage zuschlagen würde, damit rechnete auf dem Hof bestimmt niemand. Und was er als nächstes tun würde, wußte er auch schon…
Bei seinem Einkauf in Waldeck hatte er auch eine Flasche Feuerzeugbenzin eingesteckt. Das mußte den Hirschler endgültig überzeugen, daß es ihm ernst mit seiner Forderung war.
Den Rest des Tages verbrachte der Tischler wieder auf der Lichtung und kehrte erst spät in die Hütte zurück. Es war Samstagabend, und die Dörfler vergnügten sich auf dem Tanzabend, wie er wußte. Auch der Sohn vom Hirschler ging mit seiner Frau dorthin. Die Tochter wahrscheinlich ebenfalls. Er würde es also nur mit dem Alten zu tun haben, wenn er in der kommenden Nacht dem Hof wieder einen Besuch abstattete.
Gruber rieb sich die Hände.
*
Sebastian und Thomas hatten ihre Enttäuschung immer noch nicht überwunden. Aber sie mußten sich damit abfinden, daß Franz Gruber eben doch nicht so berechenbar war, wie sie geglaubt hatten. Als dann Vinzent anrief und von den freigelassenen Kühen erzählte, schüttelte Thomas ärgerlich den Kopf.
»Mein Vater benimmt sich wie ein kleiner Junge!« schimpfte er. »Himmel, was fällt ihm wohl noch alles ein?«
»Ärgere dich net«, sagte der Geistliche. »Früher oder später werden wir ihn finden.«
Er schaute Claudia und Max an, die mit am Abendbrotstisch saßen. Normalerweise wurde an den Samstagabenden im Pfarrhaus immer schön gegessen, und anschließend gingen sie zum Tanzen auf den Saal des Hotels. Manchmal begleitete Sebastian seinen Bruder und die Schwägerin auch. Heute hatten der Bergpfarrer und Max sich allerdings darauf eingerichtet, wieder auf dem Hirschlerhof Wache zu halten. Da Franz Gruber in der Nacht zuvor unsichtbar geblieben war, rechnete der Bergpfarrer damit, daß der Norddeutsche in der kommenden wieder etwas unternehmen würde. Doch dann war der Anruf gekommen.
»Ich denk’, wir können es uns schenken«, sagte er zu seinem Bruder. »Franz Gruber hat sich ja schon wieder was einfallen lassen. Ich glaub’ net, daß er in dieser Nacht noch mal was unternimmt. Geht also ruhig auf den Tanzabend und nehmt den Thomas mit.«
Der zuckte die Schultern.
»Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt Lust dazu habe«, erwiderte er.
Aber dann dachte er plötzlich, daß das vielleicht eine Chance wäre, diese Franzi wiederzusehen. Er vermutete ganz stark, daß sie sich dieses Vergnügen, von dem Hochwürden ihm erzählt hatte, nicht entgehen lassen würde, und nickte schließlich.
»Warum nicht? Ein wenig Abwechslung kann ja nicht schaden.«
Eine halbe Stunde später reihten sie sich in die Schlange vor dem Eingang zum Saal ein. Thomas war erstaunt, welch ein Andrang hier herrschte. Es mußten an die dreihundert Gäste sein, die sich auf dem Saal drängten. Indes gab es für sie keine Platzprobleme, denn der Bruder des Bergpfarrers und dessen Frau saßen am Tisch der Honoratioren des Dorfes. Sie stellten ihren Begleiter als Besucher Hochwürdens vor, und die Anwesenden nickten dem jungen Mann freundlich zu.
Claudia