Das Herz einer Mutter - Unterhaltungsroman. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726444797
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Es war alles so unwahrscheinlich, so unglaublich. Wie sollte Helga zu einem so eleganten Wagen kommen? Sie konnte unmöglich so viel verdienen, und wenn es so wäre, dann hätte ihm seine Frau doch wohl davon erzählt.

      Außerdem hatte Helga blondes Haar, und in den ganzen letzten Jahren hatte sie es kurz geschnitten getragen. Er erinnerte sich noch gut, als sie das erste Mal mit ihrer Kurzfrisur in Bingen aufgetaucht war. Vor sechs Wochen hatte er sie zuletzt gesehen, und er war ganz sicher, daß ihre Haare damals noch kurz gewesen waren. Die Unbekannte hatte lange kupferrote Locken gehabt. Natürlich, die Frauen ließen sich heutzutage das Haar färben. Aber es war doch unmöglich, daß es in ein paar Wochen so wachsen konnte. Auch die Augen waren anders gewesen, größer, faszinierender, der Mund üppiger.

      Wie hatte er nur in dieser eleganten Frau seine eigene Tochter sehen können? Die Phantasie mußte ihm einen Streich gespielt haben, das war die einzige Erklärung – eine recht unglaubhafte Erklärung, denn Paul Reimers wußte nur zu gut, daß er ein nüchterner Mensch ohne große Einbildungskraft war.

      »Wahrscheinlich«, sagte er sich, »habe ich wirklich zu viel getrunken, und das schwere Essen heute abend . . . Ich bin so etwas einfach nicht gewöhnt . . . und die vielen Reden! Irgend etwas muß bei mir ausgesetzt haben, sonst wäre ich doch gar nicht auf die Idee gekommen, den Wagen anzuhalten . . . Ja, in dem Augenblick muß bei mir schon etwas nicht in Ordnung gewesen sein. Wie wäre ich denn sonst auf die abwegige Idee gekommen, in Frankfurt ein Abenteuer zu suchen – ich, der ich mich ein ganzes Leben lang um Anstand, Ordnung und Korrektheit bemüht habe! Es muß das schlechte Gewissen gewesen sein, das mir einen Streich gespielt hat.«

      Paul Reimers lief durch die nächtlichen Straßen und merkte nicht einmal, daß er halblaut mit sich selber sprach. Der Schock saß ihm noch in allen Gliedern.

      Als er das kleine Hotel erreichte, in dem er und die meisten anderen Kursteilnehmer von der Stadtverwaltung aus untergebracht waren, hatte er sich zu der Überzeugung durchgerungen, daß er einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen sein mußte. Eine andere Erklärung war für ihn einfach nicht denkbar.

      Und dennoch, eine tiefe Beunruhigung blieb. Wenn ich mir doch nur die Autonummer gemerkt hätte, dachte er, dann könnte ich der Sache auf den Grund gehen. Ich muß Klarheit habe!

      Dann fiel ihm ein, daß ja alles ganz einfach war. Er brauchte nur morgen in das Kaufhaus Maak zu gehen und mit Helga zu sprechen. Dann würde er alles erfahren.

      Er nahm sich vor, seine Tochter gleich am nächsten Tag aufzusuchen. Und nachdem er sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, fühlte er sich entschieden besser.

      »Helga in einem weißen Mercedes und mit kupferroten Lokken auf der Kaiserstraße in Frankfurt«, murmelte er, »wenn ich das zu Hause erzähle, werden sich alle totlachen! Das ist wirklich der Witz des Jahrhunderts!«

      Aber sein Lächeln wurde zu einer schmerzlichen Grimasse, als sein Magen rebellierte.

      Für Kitty gab es keinen Zweifel – sie hatte ihren Vater erkannt, und sie wußte, daß kein Irrtum möglich war. Das kalte Entsetzen saß ihr im Nacken, als sie mit zusammengebissenen Zähnen weiterfuhr. Um ein Haar hätte sie ein Rotlicht überfahren. Gerade noch im letzten Augenblick kam sie zum Stehen, und ihr Entsetzen wurde zur Panik. Ein Zusammenstoß mit der Polizei war genau das, was sie sich in ihrer Situation am wenigsten erlauben konnte.

      Als die Ampel umschaltete, fuhr sie langsam und mit äußerster Konzentration weiter. Aber an der Hauptwache wendete sie nicht, wie gewöhnlich, um die Tour über die Kaiserstraße noch einmal zu machen, sondern sie bog in eine Nebenstraße ein und fuhr weiter, bis sie eine Parklücke fand. Sie war jetzt außerstande, ihrer nächtlichen Beschäftigung nachzugehen.

      Sie parkte den Mercedes, stieg aus, schloß ab. Erst jetzt merkte sie, daß ihre Knie zitterten. Im Schein einer Straßenlaterne zog sie einen Taschenspiegel hervor und überprüfte ihr Aussehen.

      Ihr Make-up war tadellos, aber ihre Haut war unter der Schminke blutleer. Ihre Augen zeigten einen verstörten, verängstigten Ausdruck.

      Zum Davonlaufen sehe ich aus, dachte sie, als sie den Spiegel in ihre Handtasche zurückgleiten ließ.

      Ihr Blick glitt die Häuserreihe entlang, und sie atmete auf, als sie wenige Meter entfernt auf der anderen Straßenseite ein Lokal entdeckte. Sie brauchte dringend eine Stärkung.

      Sie überquerte die Fahrbahn, öffnete die schwere Tür und schlug den ledernen Vorhang zurück. Auf den ersten Blick sah sie, daß sie nicht in eines der üblichen Nachtlokale geraten war, sondern in ein gutes Restaurant. Die gediegene Garderobe, die dunkel getäfelten Wände, die schweren Teppiche drückten Seriosität aus. Aber das störte sie nicht, im Gegenteil. Es wäre ihr unangenehm gewesen, jetzt in die gewohnte Umgebung zu geraten, ein bekanntes Gesicht zu treffen.

      Sie winkte der Garderobenfrau ab, die sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte, und schritt weiter. Der Wandspiegel warf ihre elegante Erscheinung – eine schlanke junge Dame mit kupferroten Locken in einem hellgrünen Komplet – zurück und stärkte ihr Selbstvertrauen.

      Auch in den Gasträumen waren die Wände holzgetäfelt. Auf den blütenweißen Decken schimmerten Gläser, weißes Porzellan mit blauem Muster, und überall standen Blumen. Das Publikum war so gepflegt wie die Räumlichkeiten. Es gab keine Musik, man unterhielt sich gedämpft.

      Einige Herren blickten auf, als Kitty eintrat, aber sie achtete nicht darauf. Im Augenblick stand ihr nicht der Sinn danach, Bekanntschaften anzuknüpfen. Selbstbewußt und mit hocherhobenem Kopf schritt sie geradeaus und war erleichtert, als sie einen freien Tisch fand.

      Es wurde ihr nicht einmal bewußt, daß der Herr am Nebentisch, ein hochgewachsener blonder Mann in tadellosem hellgrauem Anzug, sie unter halb geschlossenen Lidern heraus fixierte.

      Kitty setzte sich, zog die langen weißen Handschuhe aus, legte ihre Tasche vor sich auf den Tisch. »Einen Fernet Branca, bitte«, sagte sie zu dem herbeieilenden Ober, einem grauhaarigen Mann, der die Würde eines englischen Butlers zur Schau trug.

      Sie öffnete ihre Handtasche und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger mit den langen, leuchtend lackierten Nägeln zitterten. Sie preßte die Lippen zusammen.

      Mein Vater in Frankfurt, dachte sie, verdammt, hätte mich nicht jemand warnen können? Millionen Männer gibt es, und ausgerechnet er muß mir über den Weg laufen. So was kann auch nur mir passieren. Verdammt, wie soll es jetzt weitergehen? Ich kann mich nie mehr in Bingen blicken lassen, nie mehr. Es ist aus.

      Ihre Lippen verzogen sich bei der Erinnerung daran, daß ihr Vater, der gestrenge, moralisch unantastbare kleine Provinzbeamte, offensichtlich Kontakt gesucht hatte. Aber diese Erkenntnis, die Zerstörung des Vaterbildes, das trotz ihres Lebenswandels bisher unangetastet geblieben war, trug nicht dazu bei, ihre Verzweiflung zu mildern.

      Vielleicht hab’ ich’s von ihm, dachte sie, vielleicht war er seit jeher so und hat uns allen nur blauen Dunst vorgemacht!

      Plötzlich tauchte ein ganz neuer Gedanke in ihr auf. Er wird nicht wagen, es Mutter zu erzählen, er kann’s nicht wagen! Ich hab’ ihn ja auf frischer Tat ertappt. Er wird es nicht riskieren, daß ich ihn bloßstelle. Ich habe ihn ja in der Hand!

      Unwillkürlich ballte sie die Linke zur Faust, als wollte sie ihn zwischen ihren langen Fingern zerdrücken.

      Sie zuckte zusammen, als der Ober sie ansprach. Er reichte ihr ein kleines silbernes Tablett, auf dem nichts lag als eine schmale Karte aus Büttenpapier.

      Kitty sah ihn verständnislos an. »Was soll das? Ich hatte einen Fernet Branca bestellt . . .«

      Mit unbewegtem Gesicht hielt ihr der Ober das Tablett unter die Nase. Sie nahm die Karte, las sie – und glaubte ihren Augen nicht zu trauen: »Sie werden gebeten, das Restaurant rasch und unauffällig zu verlassen!«

      »Was soll das heißen?« sagte sie laut. »Was fällt Ihnen denn ein? So was ist mir noch nie passiert . . .«

      Der Ober beugte sich zu ihr herab und erklärte flüsternd: »Diese Maßnahme ist keineswegs gegen Sie persönlich gerichtet.