Wenig später erhält Dickie Best eine Nachricht, dass er sich bei Joe Armstrong melden möge. Im Hause Best gibt es noch kein Telefon, sodass Dickie mit einem Haufen Münzen zur nächsten Telefonzelle marschiert. Armstrong ist enttäuscht, dass die Jungs dem Klub keine Chance gegeben hätten. Aber er zeigt auch Verständnis: Sie seien nicht die Ersten, die vorzeitig abgereist seien. Es sei ganz normal für Jungs in ihrem Alter, dass sie Heimweh bekommen, wenn sie das erste Mal von zu Hause fort seien. Aber normalerweise würden sie nicht bereits nach 24 Stunden abhauen. „Ihr Sohn ist hier jederzeit wieder willkommen, Mr. Best. Informieren Sie mich, wenn er dazu bereit ist.“ Dickie erklärt, dass dies nur George entscheiden könnte. Er würde keinerlei Druck ausüben. Zurück im Haus, erzählt er George zunächst nichts von der erneuerten Einladung. Aber als er seinen Sohn fragt, ob er sich vorstellen könnte, es noch einmal zu versuchen, antwortet George mit „Ja“.
Zwei Wochen später ist George Best erneut auf dem Weg nach Manchester. Diesmal alleine. McMordie spielt bald für den East Belfaster Amateurklub Dundela. 1964 geht er nach England zum Middlesborough FC und wird Profi.
In Belfast hat Best eine Lehrstelle als Setzer beim „Belfast Telegraph“ bekommen, der größten (protestantischen) Tageszeitung Nordirlands. Er wird diese Lehre nie beginnen. Die Zeitung hält die Stelle ein halbes Jahr für ihn frei, für den Fall, dass er es bei United nicht schafft. Aber diesmal bleibt Best in Manchester. Der Cregagh Boys Club kassiert eine Entschädigung von 150 Pfund.
Best zieht also wieder bei Mrs. Fullaway ein. Sie wird dank ihres Klienten als berühmteste Landlady in die Geschichte des britischen Profifußballs eingehen. Die Witwe kümmert sich rührend um George. Die Jungs müssen spätestens um 22 Uhr nach Hause kommen, doch Mrs. Fullaway drückt manches Mal ein Auge zu. Später lässt Best das Fenster seines Zimmers geöffnet. Der Nachbar ist Fensterputzer und deponiert seine Leiter in der Einfahrt seines Hauses. Best schnappt sie sich, und ihr Besitzer wundert sich am nächsten Morgen darüber, dass sie an der Wand des Nachbarhauses lehnt. Schließlich erhält Best einen Haustürschlüssel. Nur eine Angewohnheit der Dame mag er partout nicht: Morgens kommt sie in sein Zimmer, und wenn George dann noch schläft, weckt sie ihn, indem sie ihn in die Nase kneift. „Es war eine furchtbare Art, geweckt zu werden.“
Unter Katholiken
Der Belfaster Protestant George Best ist bei einem Fußballklub gelandet, dem ein „katholisches Image“ anhängt. Matt Busby ist nicht nur ein überzeugter Sozialist, Anhänger der Labour Party und Bewunderer von Großbritanniens erstem Nachkriegspremier Clemence Attlee, dessen Regierung die Bank von England und die Schlüsselindustrien verstaatlicht und den Wohlfahrtsstaat eingeführt hat. Der mit einer Protestantin verheiratete Busby ist auch ein tiefgläubiger Katholik. Der irische Journalist und ehemalige United-Spieler Eamon Dunphy: „Für Matt Busby war Charakter gleichbedeutend mit Katholizismus. Er glaubte, dass Charakter der Schlüssel zum sportlichen Erfolg sei.“
Der schottische Katholik Busby lebt freilich nicht das Leben eines Heiligen. Der Trainer besucht gerne Manchesters Klubszene, trinkt mit dem Kollegen von der gegnerischen Mannschaft schon mal einen Whisky vor dem Spiel und beglückt die lokalen Buchmacher mit größeren Geldsummen.
Während Katholiken in der englischen Gesellschaft nur eine Minderheit bilden, besetzen sie in der Ära Busby bei United verschiedene Schlüsselpositionen. Auch Busbys langjähriger Assistent Jimmy Murphy, ein Waliser irischer Abstammung, ist Katholik und bleibt sein Leben lang ein treuer Kirchgänger. Ebenso Chefscout Joe Armstrong, der den Eltern katholischer Talente verspricht, dass ihre Jungs nach einem Wechsel zu United weiterhin die Messe besuchen würden. Busbys erster Kapitän, der Ire John Carey, war ebenfalls katholisch. In den 1960ern bekam mit Noel Cantwell ein weiterer katholischer Ire die Kapitänsbinde ausgehändigt.
Als der nordirische Protestant Harry Gregg 1957 zu United stieß, spürte er sofort den Einfluss einer katholischen Kultur: „Es herrschten dort nicht die geringsten Zweifel, dass der Boss (Busby, Anm. d. Verf.), Jimmy Murphy und ihre Familien von ihrer Religion durchdrungen waren. Und ihre Religion war der Katholizismus. Damit hatte ich nichts zu tun.“ Vor dem ersten Spiel nach der München-Katastrophe sei ein Priester in der United-Kabine erschienen. Gregg: „Ich hatte niemals zuvor einen Priester gesehen.“
Im Raum Manchester baut das Scouting des Vereins auf die Hilfe des Catholic Sportman’s Club: Fußballbegeisterte Priester melden dem Verein die talentierten Jungs ihrer Gemeinde. Das Netzwerk ehrenamtlicher Zuarbeiter geht bald über Manchester hinaus, auch hier mit Hilfe von Priestern und katholischen Pfadfinderklubs. Zur Belohnung werden die Informanten zu Uniteds Heimspielen eingeladen. Um 1960 gehören zum typischen Bild im Old Trafford die zahlreichen Schwarzröcke auf der Haupttribüne.
Busby pflegt die Nähe zu katholischen Spielern wie Pat Crerand. Mehr als einmal wird der Trainer mit der Behauptung konfrontiert, er bevorzuge die katholischen Spieler. Dennoch: Im protestantischen Hause Best geht der Respekt gegenüber Busby so weit, dass das jüngste Kind von Anne und Dickie Best, Sohn Ian, den zweiten Vornamen Busby erhält.
Busbys Neuaufbau
Manchester United hatte einige Jahre benötigt, um sich von München 1958 zu erholen. Als Matt Busby neun Wochen nach dem Unglück das Münchner Krankenhaus „Rechts der Isar“ verließ, versprach er der United-Familie den Aufbau einer neuen Mannschaft, die binnen der nächsten zehn Jahre den Europapokal gewinnen würde. Busby: „Manchester United wird wieder aufstehen!“ Der Manager wollte nicht akzeptieren, dass sein Lebenswerk zerstört war. Bobby Charlton: „Es war eine Verpflichtung für Manchester United geworden, diesen Pokal zu gewinnen. Es war eine Familienangelegenheit.“
Den Manager plagen schwere Schuldgefühle. Ohne seine europäischen Ambitionen hätte seine junge Mannschaft kein Flugzeug betreten. Nur der Gewinn des Europapokals kann die Dämonen von München zu Grabe tragen und die Last lindern. Der Europapokal wird zu einer regelrechten Obsession Busbys. Die englische Meisterschaft ist nur noch die Eintrittskarte für Europa.
Busby baut nun Schritt für Schritt ein neues Team auf und bedient sich dabei auch des Scheckbuchs. 1960 holt er den 28-jährigen Iren Noel Cantwell für 29.500 Pfund von West Ham United. Es ist zu diesem Zeitpunkt die höchste Summe, die in England jemals für einen Fußballer gezahlt wurde. Der elegante Linksverteidiger und irische Nationalspieler stammt aus Cork, wo er für Cork Athletic gespielt hat. Mit Cantwell kommt auch dessen Landsmann Tony Dunne, wie Cantwell Linksverteidiger. Busby kauft ihn für 5.000 Pfund vom Dubliner Klub Shelbourne FC. Im Sommer 1961 wechselt der 27-jährige Schotte David Herd von Arsenal London zu United. Der Angreifer kostet 35.000 Pfund.
In der Saison 1961/62 gibt Uniteds Eigengewächs Nobby Stiles 18-jährig sein Liga-Debüt. Die Familie des Spielers ist irisch-katholischer Herkunft. Stiles’ Stärken sind die Balleroberung und das einfache Passspiel, weshalb er ins defensive, kontrollierende Mittelfeld rückt. In einer Zeit, in der vielfach noch mit fünf Offensivkräften gespielt wird und die Halbpositionen im Mittelfeld von vorgezogenen Innenverteidigern (half backs) wahrgenommen werden, ist das eher ungewöhnlich. Stiles fällt die Aufgabe zu, den gegnerischen Kreativspieler zu neutralisieren. Dies verschafft technisch versierteren Akteuren wie Bobby Charlton und später George Best zusätzlichen Spielraum.
1962 landet Busby seinen teuersten und spektakulärsten Transfer: Vom AC Turin kommt der 22-jährige schottische Internationale Denis Law, für den United an die Italiener die astronomische Summe von 116.000 Pfund überweist. Law wird schnell zum Liebling der Fans auf der Hintertortribüne Stretford End im Old Trafford und 1964 als erster United-Spieler zum europäischen Fußballer des Jahres gewählt.
1963 holt Busby schließlich von Celtic Glasgow den 24-jährigen Patrick Timothy „Pat“ Crerand. Als Busby ihn unter seine Fittiche nimmt, besitzt Crerand in Schottland nach Auseinandersetzungen mit Schiedsrichtern und Celtic-Coach Sean Fallon den Ruf eines „bad boys“. Wie die meisten Glasgower Katholiken ist er irischer Abstammung. Der Vater stammt aus Newtownstewart in der nordirischen Grafschaft Tyrone, einer Hochburg des militanten Republikanismus, seine Mutter aus Gweedore in der Grafschaft Donegal in der Republik Irland. Crerand hätte für Süd- oder Nordirland spielen können, entschied sich aber für Schottland. Mit Nobby Stiles