Das Herz des Hais. Ulrich Becher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Becher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761907
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Der Engländer, anscheinend wenig älter als die Turians, ein noch junger Mann, leerte sein drittes Glas Campari-Soda und bestellte ein weiteres, indem er durch eine mit Schnüren aus bunten Blechperlen verhängte Tür: »Un altro, padrone!« hineinrief, und blickte durch seine obsidianschwarze Sonnenbrille, die ihm etwas Wesen- und Ausdrucksloses verlieh, hinüber zum Castello, das Marina Lunga gegen Süden abschloß. Ein massiver Bau, thronend auf Felsen, die steil ins Meer abfielen. Langsam wandte der Unbekannte den Blick nach Nordosten, auf den Ausschnitt des im Abendwerden irisierenden Meers, hin zum gleichschenkligen Dreieck, das obsidianschwarz aus dem Horizont zackte. Aus der Spitze stieß eine – in der Entfernung haardünne – Rauchsäule senkrecht ins neapelgelbe Firmament empor, um merkwürdigerweise in rechtem Winkel abzubiegen: wie eine Rauchfahne, von Kleinkinderhand gemalt.

      »Stromboli«, murmelte der Campari-Trinker. »So you are not visiting Lipari as survivors in mourning?«

      »No«, sagte Turian höflich befremdet. »Why should we? Weshalb sollten wir Lipari als trauernde Hinterbliebene besuchen?«

      »Sorry«, sagte der Engländer, nippte am himbeerfarbenen Aperitif. »Ich selber kam gestern von Pantelleria herüber als – sagen wir – hartnäckig trauernder Hinterbliebener. My father, you know. Er ist hier vor etlichen Jahren getötet worden.«

      »Hier auf der Insel?« fragte Turian sanft.

      »Yes, sir. Von den Haifischen geschnappt. Von Menschenhaien.«

      Das Lulubé machte große, ins Schwarze spielende Augen, griff zum erstenmal in die Unterhaltung ein: »Gibt es hier Haifische?«

      »Sorry, madam. Keine Ahnung.« Der Engländer leerte sein Glas.

      Turian: »Verzeihung, Sie sagten doch eben …«

      »Ich sagte, es gab welche. Damals.«

      »Daß es in der Adria Haie gibt, ist bekannt«, machte Frau Turian Konversation. »Aber im Mittelmeer – das wußte ich nicht.«

      »Mein Vater wußte es. Aber es half ihm nichts. Pagare, per favore!« Er zahlte, murmelte im Wegschlendern: »Hope to see you later.«

      »Ich glaube, er ist ein bißchen betrunken«, lächelte Turian in seinen Bart.

      »Ich glaube, ich war ein bißchen betrunken«, lächelte der Engländer, als er sich nächsten Nachmittags vor der Trattoria al M. Rosa zu den Turians gesellte. »Ich meine, als ich Ihnen gestern was von Haifischen fabulierte. This fabulous shark-story.«

      Er lächelte ausdruckslos (die Sonnenbrille); dann schrumpfte dies Lächeln, bis sein Gesicht wie glasverziertes Leder wirkte, wie ein Stück mexikanischer Sattel:

      »An utterly foolish joke; a rather sad one, as I may add. My father was killed over there in this blasted Castello.«

      Das Castello sei in Mussolinis Tagen Strafkolonie gewesen – für Gegner des Regimes. Das habe Es bei Malaparte gelesen, bemerkte das Lulubé.

      Wie nett, entgegnete der Unbekannte.

      Sein Vater sei hier gefangengesetzt worden. (Wie jener als Engländer in die Lage geraten war, ließ der Sohn ebenso unerwähnt wie den Zeitpunkt: ob vorm oder im Krieg.) Nach Marschall Badoglios Frontwechsel zu den Alliierten hin seien im Castello Faschisten – »italienische und deutsche« – festgesetzt worden; vor einiger Zeit sei das Lager aufgelassen worden, und nun würden im Kastell Ausgrabungen veranstaltet. Sein Beruf: Ausgrabungen. Doch sei er an diesen hier bloß als Hospitant beteiligt. Er sei derzeit als Archäologe drüben auf der – zur sizilianischen Provinz Trapani gehörigen – Insel Pantelleria tätig, habe sich ein paar Tage Urlaub genommen und Lipari angesegelt, wie er sich ausdrückte, um sich den verwünschten Bau anzusehn, darin sein Vater sein letztes Leben gefristet. Weil die Insel ihrer jüngsten Vergangenheit wegen noch ›etwas in Verruf‹ sei und noch nicht von der neuen, zur Abwechslung friedlichen Germanen-Invasion überlaufen, habe er gewähnt, das Paar sei womöglich gleich ihm hier auf der ›Suche nach einem Toten‹. Man möge seinen Irrtum entschuldigen. Übrigens errate er aus dem Akzent des sehr nett englisch sprechenden Paars, daß es aus der Schweiz sei.

      »That’s right«, bekannte Frau Turian nebenhin.

      »Aber Sie sehn aus, madam«, sagte der hinter der schwarzen Brille Verborgene (seine Unpersönlichkeit wirkte in der Tat, als verberge sich der ganze Mann hinter schwarzem Glas), »wie eine echte Spanierin.«

      Solches hörte das Lulubé nicht ungern. »Also ist Ihr armer Vater gar nicht von Haifischen getötet worden?«

      »Ja und nein.«

      »Wissen Sie, wie er umkam?« fragte Es interessiert.

      »Er kam nicht um.«

      Turian: »Sie sagten doch …«

      »Er wurde um-ge-bracht«, dozierte der von Pantelleria Hergesegelte unpersönlich, aber dezidiert. »Soviel hat der britische Geheimdienst herausbekommen. Er unternahm einen Fluchtversuch. You know, er sprang von jenem verwünschten Felsen dort ins Meer. Er war ein glänzender Sportschwimmer, mein Vater, wie Lord Byron. Padrone, un altro Campari-Soda!«

      »Und?« fragte das Lulubé mit großgemachten Augen, deren Iris wiederum ins Schwarze zu spielen begann.

      Nachdem der sizilianische Kneipwirt ihm einen weiteren Aperitif serviert hatte, sagte der ›Engländer hinter Glas‹: »Vaters Sprung glückte. Aber er kam nicht weit.«

      »Sie schossen auf ihn?« fragte Es mit gestautem Atem. (Diese Neugier nach dem ›Gefahrenmoment‹, Neugierde, die den Atem verschlägt, gehörte sehr zu Frau Turians Natur.)

      »Nein. Nein. Nein, madam. Sie holten Vater mit einem Motorboot ein. Schleppten ihn ins Kastell zurück. Und bestraften ihn. Indem sie ihn umlegten.« Ja, hier befleißigte der Dozierende sich unvermittelt einer rohen Floskel: »By bumping him off.«

      Er nahm die Sonnenbrille ab und war, indes er sie einsteckte, plötzlich da in Person: ein imposant aussehender junger Mann, brünettes Haar auf dem Langschädel gescheitelt, mit breiter steiler Stirn, unter der die grauen Augen in seltsam rechteckigen Höhlen ruhten, das braungebrannte Gesicht mit der feingeschnittenen Nase merkwürdig niedrig wirkte. In seinem verwittert hellbraunen, eher schwefelgelben Leinenanzug wirkte er, ungleich dem englischen Prototyp, eigentümlich vulkanisch und zugleich lebendig. Ja, wie ein Vulkan, der sich – im Gegensatz zu dem im Nordosten aus dem Meer zackenden, unentwegt tätigen Stromboli – ›zivilisiert‹ gibt, jedoch keineswegs erloschen ist. Oder bewirkte dieser gleichsam Ruhe sprühende Blick solchen Eindruck? Neben diesem Erdmann mutete Angelus Turian noch rosiger, noch zirrushafter, entrückter an.

      »Wissen Sie, was Obsidian ist?« fragte der Fremde, mit kleinem steinernem und dennoch lebendigem Lächeln dem Lulubé in die Augen blickend.

      »Lavastein«, wußte Turian nett Bescheid.

      »Exactly. Schwarzviolett-durchsichtiger Lavastein, mit dem der ganze liparische Archipel untermauert ist, eh-rr, die Äolsinseln, wie sie schon im Altertum genannt wurden. Genau von der Farbe sind Ihre Augen, Mrs. –«

      »– Turian«, stellte Angelus vor.

      Der Engländer murmelte einen Namen, erhob sich, zahlte im Abgang: »Sie gestatten, daß ich Sie einlade. See you later.«

      Er schlenderte an der Bagdadpinie vorüber, ein ziemlich großer breitschultrig-schlanker Mann von guter Haltung, mit auffallend langen Armen jedoch, die er im Schlendern kaum schlenkerte, vielmehr etwas vornüberhängen ließ, mit leicht ziehenden Schritten.

      »W-i-e heißt er?« zischelte das Lulubé.

      »Cromagnon, soviel ich verstanden habe.«

      »Cromagnon?«

      »So ähnlich. Er wird anders heißen.«

      »Wieso nicht Cromagnon, Kerubin?«

      Angelus grinste zart. »So wurde das Skelett eines Neanthropos benannt«, wußte er, der Basels Humanistisches Gymnasium besucht hatte, nett Bescheid, »das in einer Höhle der Dordogne aufgefunden wurde. Cro-Magnon ist ein Höhlenmensch,