Inhalt
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Eva Menasse: Ode an die unerschrockene Frau
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
Meinem Sohn Martin
1
In der deutschen Schweiz sind die Frauen sächlich. Nicht deshalb, weil sie zumeist im Diminutiv erwähnt werden (etwa das Fini statt die Josefine). Auch Männer werden im Diminutiv erwähnt (etwa der Heiri statt der Heinrich), doch bleibt ihr Pronomen dabei männlich. Von einer jungen oder jüngeren Frau spricht man als von einem ›Es‹ (während anderwärts im deutschen Sprachraum ›Das Weib‹ veraltet ist, nur noch bei Priestern und Schimpfern im Kurs steht). Von einer Matrone oder Greisin aber sagt man ›sie‹; erst das Altern oder das Alter beehrt man mit dem Attribut der Weiblichkeit. Redet man etwa, selbst ohne den Diminutiv anzuwenden, von einer Madeleine, so ist sie Das Madeleine. In der patriarchalisch-demokratischen neutralen Schweiz ist die blühende Frau ein Neutrum.
Das Lulubé hatte seinen Ruf- und Künstlernamen einer bekannten Kose-Abwandlung von Luise zu danken: Lulu, der es, als es in den Ehestand trat, das Initial ›B‹ seines Familiennamens Brugger anhängte. Es war eine der besten Trommlerinnen von Basel; ja, das war’s. Die Stadt am Oberrhein, wo Erasmus von Rotterdam, Hans Holbein d.J., Friedrich Nietzsche und andere merkwürdige Leute als Professoren angestellt waren, ist die Wiege europäischer Trommelkunst. Zweifellos wird auch am Kongo vortrefflich getrommelt. Aber in Basel ist das marschgerechte Trommeln, das alte Landsknechtstrommeln, nach dem zahllose Söldnerheere in getragenem Schritt und Tritt in zahllose abendländische Kriege zogen, vermöge eines aus dem Mittelalter überkommenen Fastnachtsbrauchs sublimiert worden zu einem verrückt-militant tuenden, gleichermaßen ausgelassenen und disziplinierten, großen und großartigen Volksfest, wie es so echt Europa sonst nirgends mehr kennt, einem fabelhaften in des Wortes Sinn, mit archaischen Visionen, optischen wie akustischen, und vielen traumhaften gespenstischen Momenten: der einzige protestantische Karneval auf Erden.
Das Lulubé war die Tochter eines Kleinbasler Fuhrunternehmers, der selber ein großer Trommler vor dem Herrn gewesen war. Gelegentlich einer Fas’-nacht (das ›t‹ wird hier verschluckt) Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hatte er, im Suff, Lulus Mutter mit dem Trommelschlegel ein Auge ausgeschlagen. Hätt’ er’s unterlassen, hätte sich seine Tochter – sie sah als Vierjährige diese an ihrer Mutter ›bei verminderter Zurechnungsfähigkeit verübte schwere Körperverletzung‹ mit an – das kurze Begebnis, das fast dreißig Jahre später auf der abgewrackten Sträflingsinsel Lipari an ihren faszinierten Blicken vorbeispielen sollte, die Geschichte mit dem Herz des Hais nicht so zu Herzen genommen. Nicht so zu Herzen, das Haienherz, nicht so zu Herzen.
Denn Klein Lulus Seele erlitt einen Defekt beim Beobachten der betrunken-fahrlässigen Tat und der Folgen, die sich als seltsam geringfügig offenbarten. Das Vorkommnis wurde als Unfall vertuscht, die Mutter, personifizierte Geduld und Vergebung, ließ sich ein künstliches Auge einsetzen und klemmte eine Brille darüber. Eine sehr zerstreute Frau, seufzte sie gelegentlich: »Ich habe mein Auge verlegt, Lulu, hast du mein Auge gesehn?« So wuchs das Lulu in der kaum bewußten Vorstellung auf, daß Grausamkeiten zur Tagesordnung der Zivilisation gehörten. Der Zweite Weltkrieg – wenngleich Basel einen Grenzpfosten der neutralen Friedensoase vorstellte –, der Hitlerkrieg mit seinen technisierten Ausrottungen wehrloser Menschenmassen, nährte das Trauma des jungen Mädchens. Gleich seiner Umgebung fand es den Faschismus verabscheuungswürdig. Dennoch unternahm es nach Kriegsende, nachdem es an der Kunstgewerbeschule studiert hatte und eine Studentenehe eingegangen, Lulu B. Turian geworden war, mehrere Studienreisen nach Franco-Spanien und wurde eine Aficionada. Und dann, dann fuhr es eines Septembers mit Angelus Turian, seinem Gatten, zur Abwechslung nach Lipari hinab – steiniges Eiland, auf dem zur Zeit des neuen Imperium Romanum Benito Mussolinis dessen politische Gegner neben gewöhnlichen Verbrechern festgesetzt waren – und sah, ja, sah es schlagen, das Herz …
Angelus Turian war in jedem Betracht ein Gegenstück zu dem Lulubé, mehr: ein wandelnder Gegensatz. In Basler Kunstmalerkreisen wurde er, ungeachtet daß Cherubim den Plural von Cherub darstellt, Der Kerubin genannt. (Ehrenwerte Kreise, die bis zu einem gewissen Grad von der Theorie abhingen, daß das Café des Deux Magots neben der Kirche Saint-Germain-des-Prés im Sechsten Bezirk von Paris binnen fünfeinhalb Stunden per Leichtschnellzug und Taxi erreichbar sei, während das Exempel verhältnismäßig selten statuiert wurde.) Der Kerubin war kaum so groß wie ›Es‹, womit seine Frau gemeint war. Er hatte einen rosigen Teint und weißlich-rotblondes, ins Rosafarbene spielendes Haar, das ihm in Simpelfransen in die Stirn fiel und als Vollbart sein wie aus Marzipan geformtes Gesicht umrahmte. Zudem trug er stets weiße, lichtblaue oder rosafarbene Rollkragen-Pullover, winters wollene, sommers solche aus Zwirn. Der ganze Malersmann strahlte etwas possierlich Engelhaftes aus oder erinnerte an ein abendliches Zirruswölkchen.
Zirrus, was vermagst du gegen einen Riesenhai? Du segelst in Höhen über ihn hin, Zirrocumulus, aber niemand wird ein Herz in dir vermuten. Haben Engel Herzen? Aber ein Hai hat ein Herz, wie sich am Ende vom Lied herausstellen sollte, welch ein Herz …
Angelus Turian hatte ein Herz, ein empfindsames, leicht betroffenes, weshalb er von den bewußten Kreisen ein wenig über die Schulter angesehn wurde, eher mitleidig als geringschätzig. In der ›Höhle‹ (der Spitzname von Basels Künstlertreffpunkt, einem stockbürgerlichen Lokal) pflegte man zu munkeln: »Der Kerubin ist ein Armer.« Was nicht auf seine Finanzlage gemünzt war, sondern auf seine Artigkeit. Und: »Wenn er nicht pariert, hängt Es ihn am ausgestreckten Arm zum Fenster hinaus.«
Wenn das Paar an einem Schönwettersonntag über die Mittlere Rheinbrücke flanierte, wirkte es in seiner einfältigen Diskrepanz wie gemalt von einem der französischen ›Primitiven‹, etwa von Bombois – Er: so rosa in rosa – Es: so dunkel in dunkel. Das Lulubé hatte große dunkelblaue Augen, die, wenn sie in Trommel- oder Stierkampf-Verzückung geriet, kohlschwarz zu funkeln begannen; ein attraktives schlankes Gesicht mit niedlicher Nase, eine ins Ockergelbliche spielende Hautfarbe und glänzendes pechschwarzes Haar, das im Genick zu einem bombastischen Spanierinnenknoten gewickelt war und gehalten wurde von einem aus Sevilla importierten Flitterkamm. Auch hatte es den Spanierinnen abgeguckt, fast immer in Schwarz zu gehn mit bloßen alabastrigen, einen Deut vollschlanken Armen, die es bei kleinen Festivitäten mit einer ebenfalls importierten Mantilla umhüllte. Des fulminanten Busens wegen, den Es mit Italiens Nationalfilmdiva Nummer 1 gemein hatte, wurde Es von Basels musischen Witzbolden gelegentlich ›Das Lollobri‹ genannt.
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