Einmal, in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre – man führte bereits ein Dezennium eine ›harmonische Künstlerehe‹, – hockte man bei unerträglicher Junihitze in der Arena von Pamplona, wo das Lulubé hinbegehrt hatte, nachdem es die Taschenbuchausgabe von Hemingways ›Fiesta‹ gelesen (sechs- bis siebenmal hintereinander; als sie das Buch partienweise auswendig kannte, übergab sie’s den von den Abwässern der chemischen Industrie verschmutzten Fluten des Rheins, ließ sich hinfort nicht ausreden, daß Hemingway den Vornamen Ernesto trage). – Während Turian sich umtobt sah von Massenhysterie, gedachte er einiger kürzlich gelesener Sätze aus der Feder des berühmten französischen Schauspielers Barrault:
»Ich sah einen jungen Stier in Barcelona sterben. Das war keine ›mise à mort‹ – er wurde buchstäblich ermordet. Der Degen ragte ihm zum Halse heraus. Man ließ einfach sein Blut auslaufen. Plötzlich steht er unbeweglich. Er blickt alle diese als Papageien verkleideten Männer an und kehrt ihnen den Rücken zu. Nun geht er artig, mit letzter Kraft, langsam der Tür seines Geheges entgegen. Dort stürzt er. Aus. Ich gedenke immer wieder dieser Arena, die vor Zorn schäumte wie ein Heer von tobsüchtigen Irren, vor Zorn über diesen sympathischen Stier, der starb, indem er ihnen den Hintern zukehrte …«
Angelus Turians sanftes Herz erschrak. Jäh hineinverstrickt sah er sich in das Duplikat der unlängst von Jean-Louis Barrault geschilderten Situation. Der haargleiche, schwarzhaargleiche junge Stier stand dort unten im blutmatschigen Sand, stand noch auf seinen kurzen, knabenhaft-stämmigen Beinen, und die Degenklinge ragte, ein rosiges Blitzen in der glühenden Nachmittagssonne, aus seinem Blutströme blubbernden Hals, und er sah die ihn umstehenden Papageienmänner – den Matadoren mit seiner blutroten Muleta-Fahne, die silbern-orange gekleideten Peónes der Cuadrilla – an, offensichtlich der Reihe nach an. Und Angelus, den Feldstecher in den klebrigen, etwas zitternden Fäusten, erkannte: Es war kein Blick der Dankbarkeit, den das Wesen der bunten Überzahl seiner Folterer und Mörder schenkte, weiß der Teufel nein, sondern der eines sehr jungenhaften maßlosen fürchterlichen Staunens, Staunens darüber, daß man ihm all dies (so kunstvoll ertüftelte) mörderische Leid zugefügt hatte. Und dann ging er fort. Der Gemordete. Dem Gehege zu, das den tunnelartigen Durchlaß des Toril verschloß, durch den er sich kurze Weile zuvor hereingetummelt hatte, kaum Böses ahnend, allein etwas beunruhigt ob all des Volks (er war auf einer menschenarmen Weide zu Hause). Ging fort, einen Blutsturz nach sich ziehend, mit manierlichen, wenn auch schon sterbensmatt wankenden Schrittchen; und die sechs Banderillas, die die Papageienmänner zuvor unterm Getänzel von Balletteusen in seinen Rücken gerammt hatten, kurze Spieße, die sechs tiefe Wunden gestochen, aus denen Blut gequollen war, das seine Flanken schwarzrot lackierte, die sechs Banderillas wippten auf seinem Rücken – so sah es sich schauerlich trügerischerweise an: – beinahe kokett.
»Toro! Toro! Hijo de la gran puta!«
Da brach der sommerlich, teils hochelegant gekleidete Pöbel aus in seinen Wutorkan. Flaschen, Hüte, Brot, Papierbälle wurden in die Arena geschmissen, Kavaliere – auch solche in Offiziersuniform – brüllten, hüpften, fuchtelten, aufgetakelte Damen kreischten wie die Furien. Ungläubig erkannte Turian, daß sich der ›Volkszorn‹ keineswegs gegen den Torero richtete, sondern gegen den Toro, den Stier. Der’s gewagt hatte, nicht auf dem Fleck zu verrecken, wie es sich nach all der Marter und nachdem er so stilgerecht vom Degen durchbohrt worden war, schickte. Gegen den Stier, der sich unterfing, noch im Martertod an den Heimtrott zu seiner menschenarmen Weide zu denken.
»Toro, ladrón! Hijo de la gran puta!«
Den gottvollen jungen Stier, Prachtexemplar, in das einst Zeus sich zu verwandeln nicht gezögert hätte, um die Europa hinwegzutragen, den sterbenden Stier schimpften sie, ein unisono-Massengebrüll, das selbst die feinsten Herrschaften ansteckte, schimpften sie ›Schuft‹ und ›Sohn der großen Hure‹. Total unsinnigerweise, dachte Turian verwirrt und erschüttert bei der Vorstellung der kreuzbraven und gewißlich sittenstrengen Kuh, die den Martertodeskandidaten geboren hatte.
»Hörst du, Lulubé? Der steinalte Massenwahnsinn triumphiert«, tuschelte er seiner Frau zu, zunächst ohne sie anzusehen. »Nie wäre die spanische Republik besiegt worden, wenn sie nicht gewagt hätte, den Stierkampf abzuschaffen. In meinen Augen – ich kann mir nicht helfen – eine grausige Metzelei, Metzgerei. Hitler.« Doch im Wut-Orkan verwehte sein Getuschel.
Da stürzte der Gottvolle vor dem rotlackierten Tor, das den Tunnel verschloß, stürzte wie ein Ausgestopftes, das umgestoßen wird, und rührte sich nicht mehr.
»Toro! Abajo! Hijo de la gran puta!«
Turian ließ den Feldstecher sinken, blickte zur Seite und sah, zurückbebend, nun fassungslos, daß Es, auch Es, das Lulubé, den nicht ganz der Etikette gemäß Verendenden gellend lästerte. Daß Ihm schaumige Blasen aus dem schreienden Munde platzten, dessen lila Lippenschminke verschmiert war. Daß sich Sein Haarknoten zu lösen begann, während Es wie im Veitstanz hüpfte und – jetzt – Seinen Florentinerhut in die Arena niederschleuderte wie einen Diskus.
»Heh, Lulubé, bist du von Sinnen?«
Da zuckte seine Frau herum und zischelte ihm mit Augen, die kohlschwarz funkelten, dabei so starr wie das Glasauge ihrer in Duldsamkeit erstarrten Mutter, ein hämisches Scheltwort zu, das in Kleinbasels bescheiden-verrufener Rheingasse beheimatet war:
»Dummes Licht! … Du weinst ja.«
Verstohlen griff er sich ins Gesicht und entdeckte, daß ein paar dicke Tränen in seinen rosa Bart gerollt waren.
2
Männer machen Fehler. Des Künstlerehemanns ersten entscheidungsvollen bedeuteten diese Tränen. Seinen zweiten beging Angelus Turian, indem er im vorgerückten Alter von 32 das Trommeln erlernte. Seinen dritten und letzten: die Reise nach Lipari. Doch diese drei Fehler waren nicht zu vermeiden. Sie vollzogen sich gewissermaßen selbständig, ohne einem göttlichen oder menschlichen Willen zu entspringen, wie die Ananke der alten Hellenen, der mit dem Begriff Zufall oder Geschick nicht beizukommen war; die unaufhaltsame Zwangsläufigkeit, die umherschleicht im Labyrinth menschlicher Beziehungen. Wäre einer der beiden Partner des Ehepaares Turian beim Schwimmen im Meer um Lipari in hilfloser Gegenwart des andern von einem Hai zerrissen worden, hätte man von sträflicher Unvorsichtigkeit sprechen können, von einem schlimmen Zufall oder einem tragischen Geschick. Daß jedoch das Herz eines Hais, das Herz allein, das Herz an und für sich – die Versuchung, die unschöne Floskel ›in Reinkultur‹ hinzuzusetzen, drängt sich auf –, das hingelieferte, das verlorene Herz eines Räubers eine solche Macht auf ein Menschenkind auszuüben vermögen würde …
Das verlorene Herz eines mit allen Salzwassern gewaschenen großen Räubers …
Die Baselstädter trommeln von klein auf. Geübt wird das ganze Jahr hindurch: nicht auf der Trommel, sondern auf dem ›Böcklein‹, einem