Wie neu geboren. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711740132
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es sich, bei der nächsten Auseinandersetzung darauf anzuspielen.

      Ilse-Lore hingegen vergötterte den Meister. Jede seiner Ideen und seiner Anweisungen saugte sie in sich auf. Nur selten wagte sie selbst einen Vorschlag.

      Wenn Julia, das Ende eines Seidenballens locker um sich drapiert, dastand — Marquard liebte es, die Wirkung eines Stoffes auf diese Weise abzuschätzen und sich davon inspirieren zu lassen — sagte Ilse-Lore zuweilen: »Man sollte ihn vielleicht bauschig verarbeiten!« oder »Ich stelle mir die Taille leicht gerafft vor!«

      Aber keine ihrer Anregungen wurde von Marquard je aufgegriffen; selten gab er zu erkennen, daß er sie auch nur gehört hatte.

      Julia schwieg. Sie war um eine anmutige Haltung bemüht, stellte ein Bein leicht vor und drehte sich in den Schultern, wenn der Designer es von ihr erwartete.

      Natürlich hatte sie eigene Ideen, was aus diesem oder jenem Stoff am besten zu machen wäre. Nicht umsonst hatte sie sich jahrelang mit der Mutter über modische Effekte unterhalten und ihr beim Zuschneiden und Verarbeiten der Stoffe zugesehen. Aber sie wußte, daß ihre Ansichten hier, unter Fachleuten, nicht gewünscht waren. Jedoch empfand sie sehr stark den Reiz, der von einem ganz neuen, noch unversehrten Stoff ausging, und genoß es, ihn auf der Haut, seinen kostbaren Geruch in der Nase zu spüren.

      Wenn er erst einmal zugeschnitten und zusammengeheftet war, verlor sich dieses Gefühl. Es war anstrengend, leblos wie eine Puppe dazustehen, während Marquard hier einen Kreidestrich anbrachte, dort eine Naht löste oder eine Nadel steckte. Sie konnte sich dabei selbst im Spiegel beobachten, aber selten erkannte sie, was diese kaum merklichen Änderungen bewirkten. Sie war dann froh, wenn sie endlich entlassen wurde und in ihr Büro zurückkehren durfte, wo sich, wie ihr schien, die Arbeit inzwischen angehäuft hatte.

      Bei der zweiten und dritten Anprobe, wenn man das Kleid, die Jacke, die Hose oder den Mantel schon durchaus im Ansatz erkennen konnte, wurde es für sie interessanter. Sie durfte sich bewegen, um das gute Stück voll zur Geltung zu bringen, merkte auch selbst, wenn die Taille nicht saß, die Schultern zu breit geschnitten waren oder die Rocklänge nicht stimmte. Aber sie verkniff sich jede Bemerkung darüber, wenn sie nicht direkt gefragt wurde.

      Einmal sagte der Meister, während er eine Naht aufriß: »Hören Sie, warum haben Sie sich nicht beklagt? Der Bund muß doch gekniffen haben.«

      »Das schon. Aber ich war sicher, Sie würden es selbst bemerken.«

      Es war einer der ganz seltenen Augenblicke, wo Marquard ihr freundlich in die Augen sah. »Gutes Mädchen«, lobte er sie lächelnd.

      Diese Anerkennung gab ihr die Sicherheit, daß sie mit ihrer passiven Haltung richtig lag.

      Die Anproben waren mühevoll, aber das Wissen darum, daß alle Modelle von »Pro vobis« ihr auf den Leib geschneidert wurden, gab ihr auch eine angenehme Genugtuung. Andererseits wurde sie dadurch auch gezwungen, ihre Linie auf den Millimeter genau zu halten. Einmal hatte sie, ohne sich etwas dabei zu denken, zu viele Weintrauben gegessen, und ihr Bauch hatte sich gebläht.

      Das hatte bei dem stillen, ausgeglichenen Marquard fast zu einem Nervenzusammenbruch geführt.

      »Was ist mit Ihnen?« hatte er geschrien. »Was ist passiert? Sagen Sie mir nicht, Sie erwarten ein Baby. Das dürfen Sie nicht! Das wäre eine Katastrophe!«

      Julia war über seine Reaktion erschrocken gewesen, gleichzeitig aber auch geschmeichelt. Ihr Verstand sagte ihr, daß sich notfalls auch ein anderes Mädchen mit einer guten Figur finden lassen würde. Aber sie hielt es doch auch für möglich, daß gerade sie den Designer inspirierte. Jedenfalls war sie froh, ihn beruhigen zu können.

      Er nahm ihre Erklärung gnädig an, grollte aber doch noch, als sie sich entschuldigt hatte: »Machen Sie das nie wieder, Julia.«

      3

      Während Julia im Bett lag und die Vergangenheit aufleben ließ, überkam sie das Gefühl, damals herumgeschubst worden zu sein. Seinerzeit hatte sie das jedoch nicht so empfunden, dessen war sie sicher. Die Julia von damals hatte mit der heutigen Julia kaum etwas Zu tun.

      Sie war so ausgesprochen passiv gewesen. Wann hatte sich herausgestellt, daß sie Verantwortung übernehmen und organisieren konnte? Als sie noch ein junges Mädchen war, hatte sich nicht eine Spur dieser Fähigkeiten gezeigt. Sie hatte immer nur das, was ihr gesagt worden war, getan und war dabei ganz zufrieden gewesen.

      Die Firma steckte noch in den Anfängen. Elvira Hagen hatte gerade erst begonnen, Modenschauen zu organisieren, vorwiegend im Rhein-Ruhr-Gebiet und in Norddeutschland. Immerhin war der Ruf von »Pro vobis« so gut, daß hin und wieder Einkäufer aus den umliegenden Städten nach Ratingen kamen und sehen wollten, was von der neuen Kollektion schon vorzeigbar war. Das waren Julias große Stunden.

      Sie durfte die neuen Modelle vorführen, und sie tat es mit Begeisterung. Der große Flur im ersten Stock wurde bis auf die nötigen Sitzgelegenheiten an den Wänden geräumt. Es gab noch ein paar niedrige Tische vor den Sesseln und Sofas, auf denen für die Besucher Gläser, Getränke und Aschenbecher standen.

      Hinter einer verglasten Schiebetür zog sich Julia blitzschnell um, und Ilse-Lore half ihr dabei. Dann schritt sie gelassen und anmutig durch den Flur. Sie wurde für diese Auftritte nicht besonders geschminkt, denn niemand hatte Interesse an ihrer Person oder ihrem Gesicht. Alle Augen waren nur auf Sitz und Schnitt der einzelnen Modelle gerichtet.

      Auf ihrem Rückweg zur Schiebetür wurde sie häufig von der Chefin umgeschickt, weil sie den Kunden — meist waren es Frauen — Gelegenheit geben wollte, die Stoffe genauer zu prüfen. Das war für Julia keine angenehme Aufgabe. Obwohl ihr klar war, daß es gar nicht um sie selbst ging, fühlte sie sich doch wie eine Sklavin, die auf dem Markt feilgeboten wurde. Wenn Elvira Hagen, die ihre Schwäche kannte, ihr nicht hie und da einen mahnenden oder aufmunternden Blick zugeworfen hätte, wäre ihr Lächeln gefroren und hätte sich zu einer Maske verzerrt.

      Davon abgesehen machte ihr das Vorführen der exquisiten Modelle Spaß, die ihr wie angegossen paßten und tatsächlich auch ihrem eigenen modischen Empfinden entsprachen. Darüber hinaus wertete sie es als persönlichen Erfolg, obwohl niemand aus dem Haus ihr das zugestand, wenn die Kunden großzügig orderten. Sie wußte, daß niemand die Kleidungsstücke besser zur Geltung bringen konnte als sie selbst.

      Als die Chefin eine große öffentliche Modenschau in der Stadthalle plante, war Julia Feuer und Flamme, während die anderen Bedenken hatten. Dr. Hagen schreckten die Kosten, Marquard zweifelte an dem Erfolg, und Ilse-Lore, die sich weder mit der Chefin noch mit dem Couturier anlegen wollte, hielt sich bedeckt.

      Aber auch diesmal setzte Elvira Hagen ihren Willen durch. Die Miete für die Halle, rechnete sie ihrem Mann vor, würde durch die Einnahmen voll gedeckt sein. Sie war sicher, daß das Ratinger Publikum modebewußt und neugierig genug auf die Erzeugnisse der ortsansässigen Firma war, um für die Eintrittskarten gesalzene Preise zu zahlen. Ausgewählte Modehäuser im näheren Umkreis sollten Ehreneinladungen erhalten; für sie würden die vorderen Reihen reserviert sein. So würde man drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: den Bekanntheitsgrad der Firma steigern, die Presse auf sich aufmerksam machen und Kunden ködern.

      Nachdem das Stadium der Planung überwunden war und Dr. Hagen sein Einverständnis gegeben hatte, begannen die Vorbereitungen für den großen Tag. Verträge mit der Stadtverwaltung mußten geschlossen, Einladungen entworfen und gedruckt und Mannequins engagiert werden. Elvira Hagen entwickelte ein grandioses Organisationstalent, und Julia war eine so gelehrige Schülerin und Assistentin, wie man sie sich nur wünschen konnte.

      Doch als sie erfuhr, daß sie nicht vorführen, sondern nur hinter den Kulissen helfen sollte, war sie zutiefst enttäuscht. Sie verstand die Welt nicht mehr.

      »Sie sind bei uns als Hausmannequin engagiert«, erinnerte die Chefin sie kühl.

      »Aber das schließt doch nicht aus …«

      »Unserer Meinung nach schon«, unterbrach Elvira Hagen sie.

      »Aber ich habe doch gelernt, Kleidung zu präsentieren, und ich