Vor dem jungen Krupp empfängt Rosemarie Nitribitt 1957 einen weiteren Harald in ihrer Wohnung. Und der nannte sie „Fohlen“. Ebenfalls ein prominenter Industrieller. Dieser ist im Gegensatz zum Krupp-Sohn sogar verheiratet. Harald Quandt, ein Mann mit bewegter Geschichte. Seine Mutter Magda lässt sich früh scheiden und heiratet 1931 Joseph Goebbels. 1945 tötet sie sich im Führerbunker nicht nur selbst, sondern auch Haralds sechs Halbgeschwister.
Eines Samstagabends tauchte Rosemarie Nitribitt im November 1956 im drei Stunden entfernten Bad Homburg auf dem feudalen Anwesen der milliardenschwere Industriellenfamilie Quandt auf. Sie trug ein hautenges Cocktailkleid, stellte sich dem 35 Jahre alte Harald Quandt auf der Geburtstagsparty von dessen 28-jähriger Frau als Rebecca Wolf vor, nippte am Sekt und ging wieder, denn sie lernte auf dieser Party auch Gunter Sachs kennen, was auch einen Einblick in die Partykultur dieser Zeit gibt. Rosemarie verschwand mit Gunter Sachs und kehrt am frühen Morgen zur Party zurück. Sie erzählte, wie sie die Zwischenzeit verbracht hat und das wurde beifällig zur Kenntnis genommen. Sie verkaufte sich geschickt - dem millionenschweren 24-jährigen Mathematikstudenten Gunter Sachs verrechnete sie die ersten beiden Treffen inklusive Dreier und Mundverkehr nicht, was ihm schmeichelte (ihre Freundin Irene verlangte 50 DM).
Die Polizei schickte bei Gunter Sachs’ detailreichem Verhör über Nitribitts sexuelle Vorlieben die Stenotypistin aus dem Raum und entschärfte die erwähnten Blow-Jobs zu „Mundverkehr“.
Im April oder Mai 1957 kam Quandt eines Abends auf die Idee, die Nitribitt aufzusuchen, sagte er später aus. Nitribitt servierte eine Flasche Sekt, dann redeten sie ungelenk über ein lustiges Buch, Quandt gab ihr 150 DM, sie zogen sich nackt aus und hatten ein sexuelles Erlebnis.
Im Opel gabelte Nitribitt 1953 Ernst Wilhelm Sachs auf, den 24-jährigen Erben der Präzisionskugellager-Werke Fichtel & Sachs. Das schicke Gefährt sprach mehr und hochkarätigere Kunden an, das Prinzip verstand sie. Junggeselle Ernst Wilhelm Sachs, in den Nitribitt sehr verliebt war, wie sie ihrer Freundin Irene erzählte, ließ die Edelhure zwar ein paar Tage in seiner Schweinfurter Wohnung bleiben - länger aber nicht, obwohl er dort alleine lebte. Ihr Verhältnis beschrieb Sachs als „ohne jegliche ernste Absichten“. 1957 heiratete er das echte Mannequin Model Eleonora Vollweiler.
Auch der bekannte Rennfahrer Fritz Huschke von Hanstein gehörte zu Rosemaries Kundenkreis. Er besucht sie oft und macht ihr Geschenke. Zum Zerwürfnis kommt es, als sie ihm bei einem Autorennen besucht und feststellt, dass er seine verheiratete Frau dabei hatte.
Der Klarinettist Fatty George durfte ihren Mercedes fahren und machte sie mit dem Jazzpianisten Joe Zawinul bekannt, der ihr Kunde wurde.
Zu ihrer Laufkundschaft zählten bald Chefredakteure und Filmemacher, Prinzen, Fürsten, Barone. Ob die Bundeskanzler Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger und ein Bruder des Bundespräsidenten Gustav Heinemann sich an „Rebecca“ erfreut haben; angeblich besaß der US-Geheimdienst Fotos von Bonner Politikern auf Nitribitts Bettkante, konnte nie bewiesen werden.
In nur anderthalb Jahren legte die tüchtige Nitribitt aber auch im Schritttempo 42 000 km zurück. Innerhalb von nur vier Jahren etablierte sie sich als erste Edelprostituierte der Nachkriegszeit. Bald war sie so bekannt, dass eine echte Frankfurter Dame des konsularischen Corps von Männern belästigt wurde, weil sie dasselbe Mercedes-Modell in der gleichen Farbe fuhr.
Eine Prostituierte, die in aller Öffentlichkeit ihre Freier suchte, war eine beispiellose Provokation. Mit dem Gesetz wollte Nitribitt aber nicht mehr in Konflikt geraten. Der berüchtigte Kuppeleiparagraph verbot bis 1969 selbst Eltern noch bei Strafe, unverheiratete Paare im selben Zimmer schlafen zu lassen. Ihr damals hypermodernes, mit weißen Marmorplatten verkleidetes Mietshaus am Eschenheimer Turm schien Nitribitt der ideale unscheinbare Ort für ihr Gewerbe. Es war kein schmutziges Stundenhotel, nein: Rosemarie empfing ihre Kunden im bürgerlichen, fast spießigen Ambiente, das sie „Ernstl“ Sachs’ Wohnung abgeschaut hatte.
Rosemarie Nitribitt war weder rasend schön noch klug. Diese kindliche blonde Person, deren Leibspeise Milchreis war, strahlte eine finstere Lebensweisheit aus. Sie war die Frau, die außer Geld keine Ansprüche stellte und für Geld Fantasien erfüllte. Sie sah Schwulen gerne beim Sex zu, liebte lesbisch und schlug auch mit dem Rohrstock bis zur geschlechtlichen Befriedigung zu. Andere Männer erinnerten sich an eine zärtliche Geliebte. Manche kauften sich Zeit, wollten Nähe und nur reden; sie selbst musste dabei kaum etwas sagen.
In kürzester Zeit hatte sich die Frau, die große Mühe hatte, ihren eigenen Namen zu schreiben, einen Namen gemacht. „Die Nitribitt“ sprach sich herum, in einem erstaunlich großen Einzugsgebiet zu den klangvollsten Namen. Es gibt wenige Bilder von Rosemarie Nitribitt, die meisten sind gestellt. Für einen Freier schnuppert sie in Strapsen an einem enormen Strauß Gladiolen. Für alle Freier posierte sie an ihrem Mercedes.
Was hatte alle diese Männer an der Frau so fasziniert? Darüber rätselt nicht nur die Polizei. Die Männer sahen eine hübsche, gut gekleidete, saubere Frau mit einer eigenen Wohnung und man konnte angenehm mit ihr plaudern.
Geradezu legendär ist der Kalender von Rosemarie. Hier listet sie chiffriert die Treffen mit ihren Freiern auf und was sie ihr bezahlen. Man hat anhand dieser Einnahmen ausrechnen können, dass sie bis Oktober 1957 Einnahmen von etwa 81 000 DM hatte. Sie hatte immer Bargeld in ihrer Wohnung, am Tag ihrer Ermordung knapp 20 000 DM.
Ist Rosemarie Niribitt das Opfer eines Raubmörders geworden? Der berühmten schwarzen Mercedes-Benz 190 SL war nämlich verschwunden, in der Geldkassette fehlte das Bargeld. Viele Legenden ranken sich aber auch um ein Tonbandgerät, was in ihrem Wohnzimmer steht. Das löste Spekulationen aus, sie sei eine Industriespionin, sei für den Geheimdienst tätig usw. Als die Polizisten die Leiche der jungen Frau finden, ist am defekten Tonband der Aufnahmeknopf gedrückt. Dort ist ein Gespräch „festgehalten, wo man sie dreimal hintereinander undeutlich sagen hört: “Lassen Sie mich in Ruhe“ und die Aufnahme endet mit einen Knax. Was dann passiert, lässt sich nur vermuten. In perverser Fürsorglichkeit hatte der Täter den Kopf der Toten auf ein rosafarbenes Frottee-Handtuch gebettet. Rosemarie Nitribitt wurde von hinten erwürgt, ihr Mörder drückte so heftig zu, dass sich seine Fingernägel in ihren Kehlkopf gruben. „Vor der Tat hat ein kurzer Kampf stattgefunden“, vermerkten die Ermittler. Offenbar wurde Rosemarie von einem Besucher niedergeschlagen, wo sie sich eine stark blutende Platzwunde zuzog. Aber sie ist nicht bewusstlos. Sie greift nach dem Telefon, um Hilfe zu rufen, doch ihr Mörder ist schneller. Minuten später liegt sie tot am Boden.
Im Hessischen Staatsarchiv lagern bis heute die Freier-Fotos, die Tatort-Fotos und die Berichte der Polizei, die Rosemarie gefunden haben. Mordermittler Petermann kann davon ableiten, was am Tattag in der Wohnung geschah. „Es spricht für eine eskalierende Situation. Es spricht nicht für eine Tatplanung, dem Täter schien gar nicht bewusst gewesen zu sein, wie er das Opfer angreifen sollte. Das hat sich nach und nach ergeben, die Situation hat sich hochgeschaukelt. Die Beteiligten haben gestritten, es kam zum Krach und der Täter explodierte förmlich und schlug zu.“
Der Todeszeitpunkt hat sich nie genau bestimmen lassen, da die beiden Polizeibeamten, die die Leiche gefunden haben, zuallererst das Fenster im Wohnzimmer aufgerissen haben, weil es wirklich furchtbar in der Wohnung gerochen hat. Da aber war die Temperatur noch nicht gemessen wurden und damit gab es nie einen exakten Todeszeitpunkt und eine möglich exakte Bestimmung von Alibis.
Zusammenfassend: Am Nachmittag des 1. November 1957 fand die Polizeistreife „Frank 40“ Rosemarie Nitribitt mit eingeschlagenem Schädel in ihrer Wohnung in der Stiftstrasse auf. Die Leiche der 24-Jährigen lag auf dem Perserteppich vor dem Sofa. Ihr anthrazitfarbenes Kostüm war hochgerutscht, ein Strumpfhalter sichtbar. Fenster und Gardinen waren geschlossen. Es war dunkel und stank bestialisch. Im Schlafzimmer winselte der eingesperrte Pudel. Die Fußbodenheizung lief auf Hochtouren, Nitribitts Gesicht war blutverkrustet und grotesk aufgedunsen, die Verwesung hatte in der Hitze bereits eingesetzt.