Clara aber hatte schon eine Idee, wie sie ihren Liebling trösten konnte. Sie ging rauf ins Schulzimmer, nahm das Manuskript von Snow upon the Desert, von dem sie wusste, dass Agatha es kürzlich überarbeitet hatte, in die Hand und trug es über die Straße zu Eden Philpotts. Der Schriftsteller versprach, es zu lesen und eine Beurteilung zu schicken. Er hielt sein Wort.
Es war stets eine Freude für Agatha und Clara, wenn Madge zu Besuch kam. Sie zog in Ashfield ein als eine alte Bewohnerin, die sie ja war, mit allen Rechten und Pflichten und prüfte sehr genau, ob auch alles noch am rechten Platze stand. Madge galt immer als das große poetische Talent in der Familie. Sie hatte schon Gedichte veröffentlicht, als Agatha noch klein war, und ihre Kurzgeschichten stießen bei Lesungen in der Familie und im Freundeskreis auf große Resonanz. Einige verkaufte sie sogar an Zeitschriften. Agatha war stolz auf ihre Schwester, aber auch ein wenig neidisch, wobei dieser Neid durch den beträchtlichen Altersabstand, der zwischen der Erstgeborenen und ihr bestand, gemildert wurde. Aber seit Agatha erwachsen war, fühlte sie eine Verpflichtung, es der Schwester gleichzutun, und die positive Beurteilung ihres Erstlings durch Mr Philpotts war nun eine Trumpfkarte, die sie ausspielen konnte.
»Aber wie wird es jetzt weitergehen?«, fragte Madge, die sich nie auf ihren Erfolgen ausruhte. »Wirst du Snow upon the Desert an einen Verlag schicken?«
»Aber ja, das werde ich. Drück mir die Daumen, dass jemand anbeißt.«
»Du musst weiterschreiben. Nur keine größeren Pausen, sonst kommst du aus der Übung. Was machst du als Nächstes?«
»Ich sitze an einer Kurzgeschichte, genauer gesagt: an zweien. Ich möchte sie wieder Eden Philpotts vorlegen – mal sehen, ob er findet, ich sei weitergekommen.«
Natürlich sprachen die Schwestern auch über das Ende von Agathas musikalischer Karriere.
»Weißt du«, sinnierte Agatha, »ich habe etwas erkannt. Wenn das, was du dir mehr als alles andere wünschst, nicht möglich ist, ist es besser, es hinzunehmen, als sich mit Reue oder vergeblicher Hoffnung aufzuhalten. Man muss nach vorne blicken.«
Madge legte ihr einen Arm um die Schulter. »Ich habe gerade den neuesten Kriminalroman von Gaston Le Roux gelesen«, sagte sie, »musst du auch lesen, unbedingt. Und überleg dir, ob das nicht was für dich wäre: einen Kriminalroman zu schreiben. Ich hab es schon versucht. Ist höllisch schwer. Na ja, womöglich schaffst du es nicht, man soll sich auch nicht überfordern.«
»Ich möchte es versuchen.«
»Wetten, du schaffst es nicht?«
»Es war keine richtige Wette«, so erzählt es Agatha im Rückblick, »aber mein Ehrgeiz war geweckt. Von diesem Augenblick an war ich wild entschlossen, einen Krimi zu schreiben. Ich fing nicht gleich damit an, legte mir auch keine Handlung zurecht, aber die Saat war im Boden.«
Das andere große Thema bei Madges Besuchen waren Agathas Eheaussichten.
»Reggie Lucy«, sagte Madge, »ist ein reizender Junge, und er ist von hier. Hat er vor, sich in Torquay niederzulassen?«
»Vermutlich.«
»Du klingst nicht gerade begeistert …«
»Er hält um meine Hand an und geht mit meinem Ja nach Indien. Ist das in Ordnung?«
»Längere Verlobungszeiten sind üblich. James und ich waren doch auch eine ganze Weile verlobt. Ein Paar hat dann Zeit, alles zu überdenken.«
»Das ist es ja. Wenn ich anfange, alles zu überdenken, möchte ich hier in unserem Ashfield bleiben.«
»Um dich dazu zu bringen, eine Ehe einzugehen, müsste man dich also entführen wie ein Raubritter, des Nachts und mit Gewalt. Ist es das, was du sagen willst?«
Agatha überlegte. Und nickte. »Ja, genauso ist es. Ich möchte überwältigt werden – aber natürlich nicht körperlich, sondern seelisch. Was meinst du: Ist das falsch?«
Es war im Oktober 1912, als Lord und Lady Clifford von Chudley in Exeter einen Ball gaben – für die Offiziere und die Truppe der dortigen Garnison. Selbstverständlich waren junge hübsche Damen hochwillkommen, und so erhielt auch Agatha diese unverhoffte Einladung. Alte Freunde von Frederick Miller hatten sie empfohlen, nahmen sie in ihrer Kutsche mit und stellten sie ein paar Bekannten vor. Ihre Tanzkarte war bald gefüllt, und als der erste Kavalier sich aufmachte, seine Dame abzuholen, kam ihm ein hochgewachsener junger Soldat zuvor. Er war Agatha schon aufgefallen, weil er so gut aussah. Er verbeugte sich vor ihr, sie schmiegte sich in seinen Arm, und er schwang sich mit ihr über das Parkett; ihr Gewissen pochte, weil ja ein anderer Kandidat auf ihrer Karte stand. Laut genug, um den Geräuschteppich aus Musik, Tanz und Gelächter zu übertönen, stellte sich ihr Tanzpartner vor: Leutnant Archibald Christie, Königliche Feldartillerie von der Brigade Exeter. Ob sie ihm auch den nächsten Tanz gönnen könne? »Sorry«, sagte Agatha, »der ist vergeben.« Archibald führte Agatha von der Tanzfläche zu den Stühlen am Rand des Saales, ließ sich ihre Karte zeigen, zog einen Stift aus seiner Uniformtasche und strich die nächsten drei Anwärter aus. »A-Aber –«, sagte Agatha, doch da war sie schon wieder am Arm ihres Kavaliers mitten unter den tanzenden Paaren. Der Leutnant hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen halb geschlossen, als könne er so besser auf die Musik und den Rhythmus achten, und lächelte.
Was der sich herausgenommen hat, dachte Agatha auf der Heimfahrt von Exeter nach Torquay, ganz schön unverschämt. Er war ein Hasardeur, dieser Leutnant Christie, ein Abenteurer offenbar, aber auch ein Mann mit viel Mut. Er war vierundzwanzig Jahre alt, in Indien geboren und bei der Mutter mit Bruder Campbell in Bristol aufgewachsen. Das Soldatenleben, hatte er ihr erzählt, bedeute ihm weiter nichts, aber beim Militär könne er etwas machen, was für ihn als Zivilisten unerschwinglich sein würde: fliegen. Er habe sich bereits für das Königliche Fliegerkorps qualifiziert und besäße ein entsprechendes Zertifikat. Wie stolz er darauf war! Agatha sagte, dass sie ihn sehr gut verstehe und dass sie auch schon mal in die Lüfte aufgestiegen sei, bei einer Flugschau mit ihrer Mutter. Da konnte man einmal kurz mit einer Maschine in die Wolken tauchen, es kostete die enorme Summe von fünf Pfund. Es habe ihr unwahrscheinlich gut gefallen. Archibald küsste ihr die Hand. Jetzt lächelte auch sie.
Ein paar Wochen später spielte Agatha gerade bei der Nachbarsfamilie Mellors mit dem jungen Mellors Badminton, als ihre Mutter sich am Telefon meldete: sie solle doch bitte sofort nach Hause kommen, es sei Besuch für sie da. Agatha wusste, dass es Clara überhaupt nicht gefiel, wenn sie die Honneurs für einen Verehrer ihrer Tochter machen musste, und so lief sie gleich rüber nach Ashfield. Da saß im Salon niemand anderes als der blonde Soldat aus Exeter. ›Habe ich ihm denn gesagt, wo ich wohne?‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Nein, habe ich nicht, er muss sich bemüht haben, es rauszufinden.‹ Jetzt stand er auf, sie zu begrüßen, und er teilte ihr mit, dass er mit dem Motorrad gekommen sei. Allerhand, dachte sie. Und sagte: »Wie nett, Leutnant Christie, dass Sie vorbeigekommen sind.«
Nach diesem Überraschungsbesuch in Ashfield dauerte es nur ein paar Tage, und Archie war wieder da. Er kannte ja nun den Weg. Clara war skeptisch, was diesen selbstsicheren Jüngling betraf, er gefiel ihr, aber sie zweifelte, dass er für ihr Mädchen der Richtige sei. Sie fürchtete, er sei der Typ, der keine Rücksicht nimmt. Ganz anders Agatha. Sie interessierte sich jetzt für die Luftschifffahrt. Sie verschwand manchmal halbe Tage. Ihr Verehrer lud sie zu einem Konzert in Exeter ein und zum Neujahrsball in Torquay. Er wanderte mit ihr durch das unwegsame Dartmoor und erzählte dabei von den neuesten Fluggeräten. Wenn er sie nach Hause brachte, nahm er ihre Hand, und sie schaute nicht an ihm vorbei, sondern in sein Gesicht. Ihr Vorstellungsvermögen dichtete ihm keine Geschichte an, sondern verhielt sich ganz ungewöhnlich: es schwieg. Es überließ sie der