Die prachtvolle viktorianische Villa mit Namen Ashfield, lag in Torquay, Grafschaft Devon, ein Städtchen, das im späten 19. Jahrhundert ein elegantes Seebad war. Vater Frederick Miller, der aus Amerika stammte, war sehr beeindruckt von der Schönheit des Ortes und der heiteren Gelassenheit seiner Menschen; Torquay half ihm dabei, ein Engländer zu werden. Eigentlich wollte er mit seiner jungen britischen Frau Clara in den Staaten leben, aber sie entschied sich für die englische Riviera, und da Frederick ein äußerst verträglicher Mitmensch und Ehemann war, stimmte er zu. Das Haus Ashfield mit dem großen Garten hatte Clara ebenfalls ausgesucht, und sie richtete es voller Hingabe im großbürgerlichen Stil der Zeit, mit Samtportieren, schweren Büfetts und schimmernden Kristalllüstern ein. Alle ihre drei Kinder kamen hier zur Welt: die älteste Tochter Margaret, genannt Madge, Sohn Louis Montant, genannt Monty, und schließlich, am 15. September des Jahres 1890, das Nesthäkchen Agatha Mary Clarissa. Die Kleine wuchs auf, wie es damals üblich war in der englischen Gentry: Wenn sie Zeit mit den Eltern verbrachte, so erschien es allen als etwas Besonderes wie ein Sonntag. Den Alltag brachte sie mit Nursie zu, ihrer Kinderfrau, der sie rückhaltlos zugetan war. Nursie war schon alt, dabei unendlich lieb und geduldig. Sie las Agatha aus der Bibel vor, ging mit ihr in den Garten und zum Einkauf in den Ort, Nursie fütterte sie und brachte sie zu Bett, tröstete und streichelte sie und erklärte freundlich alle Rätsel der seltsamen Welt. Und dann war da Jane, die Köchin, die wohlbeleibte Herrscherin über die Küche und die Vorratskammer, auf deren Schoß Agatha Cremetörtchen probieren und Sirup umrühren durfte. Auch der Gärtner hatte das Kind gern, aber da er öfter ziemlich brummig war, hatte Agatha vor ihm ein bisschen Angst. Schwester Madge war elf Jahre älter als Agatha und Bruder Monty zehn Jahre, somit fielen die Geschwister als Spielkameraden für die Jüngste aus. Gewiss, die beiden waren da, Madge las Agatha selbst verfasste Märchen vor und Monty spielte mit ihr Gespenst, aber so unverhofft die beiden sich ihr zuwandten, so schnell waren sie wieder auf und davon, wenn ihre gleichaltrigen Freunde sie riefen. Solche Freunde gab es für Agatha nicht. Das Mädchen war arg schüchtern, Versuche, sie mit Kindern aus der Nachbarschaft zusammenzubringen, fruchteten nicht, und Nursie hatte dazu auch wenig Neigung. Sie war am liebsten mit ihrem Schützling allein, und Agatha war gern allein mit ihr. Mit ihr und mit sich selbst und mit Hund Toni. Sie konnte stundenlang im Garten mit ausgedachten Spielgefährten, mit Kobolden und Feen und fiktiven gleichaltrigen Mädchen Spiele spielen und unter Büschen Geschichten ersinnen und aus bunten Steinen Figuren legen, manchmal waren Buchstaben dabei. Auch das Haus bot viel Abwechslung. Da war das Klavier, auf dem sie klimpern durfte so viel sie wollte, da waren die Zimmer, in die sie eigentlich nicht hineindurfte, das Herrenzimmer, die Ankleidezimmer, das Rauchzimmer, die Wäschekammer und die Abseiten, aber niemand schalt sie aus, wenn sie sich dort hineinschlich, alle lächelten nur. Und dann war da das Schulzimmer mit der Tafel und dem Globus. Und die Bibliothek! Als sie ein wenig größer war, setzte sie sich auf den Boden am Fuß eines mächtigen Regals, nahm einen Band heraus und blätterte vorsichtig – sie guckte nicht nur nach Bildern, sondern auch nach Wörtern. Madge las ihr hier Alice im Wunderland vor und zeigte auf Wörter, und Nursie erklärte ihr beim Einkauf die großen Zeichen auf Plakaten und über den Kaufläden, da stand »Heute neu« und »Äpfel« und »Bäckerei«. Jetzt entdeckte Agatha die Buchstabenfolgen in den Büchern wieder und war ganz aufgeregt. Manchmal spielte sie in der Bibliothek nur, dass sie ein Kätzchen sei und mit anderen Kätzchen eine Reise entlang der Stuhlbeine unternahm, aber dann kam sie wieder auf die Bücher zurück und träumte über den gedruckten Seiten.
Agatha Christie als Kind.
Bücher galten zu jener Zeit als Quellen wichtiger Erkenntnis und schöner Erbauung, aber auch von gefährlicher Reizung der Phantasie – weshalb Kinder nicht zu früh in die Kunst des Lesens eingeführt werden sollten. Für Töchter war ohnehin keine schulische Bildung vorgesehen. Was sie zu lernen hatten, konnte man ihnen daheim vermitteln, es sei denn, sie zeigten in irgendeiner Disziplin besondere Begabung – dafür wurde dann ein Hauslehrer engagiert oder eine Gouvernante. Bei Agatha galt es erstmal abzuwarten, das stille, in sich gekehrte Kind zeigte scheinbar keine besondere Wissbegier. Bis die Fünfjährige auf Nursies Schoß plötzlich bei der Bibellektüre Worte zu entziffern vermochte