Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter H. Wilson
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783806241372
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die einzig seligmachende sei, dass sie allein zur Richtschnur in allen Fragen der Gerechtigkeit, der Politik und des alltäglichen Lebens tauge. Die Moderaten allerdings waren pragmatisch gesinnt; für sie stellte die ersehnte Wiedervereinigung aller Christen in einer einzigen Kirche eher ein grundsätzliches Fernziel als ein konkretes Handlungsmotiv dar. Ganz anders die Militanten: Ihnen schien dieses Ziel bereits in Reichweite, und so waren sie nicht nur gewillt, zu seiner Erreichung Gewalt statt guter Worte einzusetzen, sondern verspürten dazu sogar einen göttlichen Auftrag. Die biblische Botschaft sprach zu ihnen mit der Stimme der Vorsehung, als Ankündigung einer bevorstehenden Endzeit, und sie setzten die Ereignisse ihrer Gegenwart in einen direkten Zusammenhang mit dem biblischen Text. Für sie war der Konflikt ein Heiliger Krieg – ein kosmischer Showdown zwischen Gut und Böse, in dem der Zweck fast jedes Mittel heiligte.

      Wie wir noch sehen werden, blieben die Militanten in der Minderheit. Den Krieg erlebten sie meist als Beobachter oder als Opfer von Kampf und Vertreibung. Dennoch erwies sich, damals wie heute, Militanz genau dann als besonders gefährlich, wenn sie mit politischer Macht in eins fiel. Dann nämlich erzeugt sie bei den Herrschenden das wahnhafte Gefühl, sie seien Gottes Auserwählte, erfüllten Gottes Willen und dürften schließlich auch mit göttlichem Lohn rechnen. Wer so denkt, der glaubt an die absolute und alleinige Geltung der eigenen Normen, an die unbedingte Überlegenheit der eigenen Regierungsform und die alleinige Wahrheit der eigenen Religion. Wenn solche Fundamentalisten „die anderen“ als von Grund auf böse dämonisieren, ist das die psychologische Entsprechung zu einer militärischen Kriegserklärung, die jede Möglichkeit zu Dialog oder Kompromiss torpediert. Einmal radikalisiert meinen sie, ihre Gegner nicht mehr als Menschen behandeln zu müssen. Probleme, die sie vielleicht selbst mitverursacht haben, werden ausschließlich dem Feind in die Schuhe geschoben. Ein derart übersteigertes Selbstbewusstsein birgt freilich Gefahren für beide Seiten. Der Glaube an den göttlichen Beistand ermuntert Fundamentalisten, Risiken einzugehen. Wenn die Chancen auf Erfolg verschwindend gering erscheinen, sehen sie darin lediglich die Absicht der göttlichen Vorsehung, ihren Glauben auf die Probe zu stellen. An ihrer festen Überzeugung, dass der Sieg ihnen am Ende sicher sei, kann nichts rütteln. Eine solche Einstellung kann zu wilder Entschlossenheit oder verbissenem Widerstand führen, aber für einen langfristigen militärischen Erfolg taugt sie kaum. Fundamentalisten haben keine wirkliche Kenntnis ihrer Gegner, denn sie geben sich nicht die geringste Mühe, diese zu verstehen. Gewiss haben fundamentalistische Auffassungen einigen Schlüsselmomenten des Dreißigjährigen Krieges ihren Stempel aufgedrückt, etwa dem Prager Fenstersturz oder der Entscheidung des pfälzischen Kurfürsten, sich dem Böhmischen Aufstand anzuschließen. Der Einfluss militanter Kräfte mag bisweilen in einem Missverhältnis zu ihrer tatsächlichen Zahl gestanden haben; das heißt aber nicht, dass wir den ganzen Konflikt durch ihre Augen betrachten und interpretieren sollten.

      Die dritte entscheidende These dieses Buches ist, dass der Dreißigjährige Krieg keineswegs unvermeidlich war. Der Einfluss ökologischer und ökonomischer Probleme auf das gesamteuropäische Kriegsgeschehen im 17. Jahrhundert ist bestenfalls marginal gewesen. Es war ja auch nicht so, dass tatsächlich der gesamte Kontinent von einer Welle der Gewalt überrollt worden wäre: Weite Teile des Heiligen Römischen Reiches blieben nach 1618 friedlich, obwohl sie bestimmte fundamentale Probleme mit den Kriegsgebieten gemein hatten; erst als der Konflikt 1631/32 eskalierte, brach die Gewalt sich hier ebenfalls Bahn. Auch aus dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, der die Spannungen der Nachreformationszeit beilegen sollte, ergab sich nicht zwangsläufig gleich ein Krieg. Zwar folgten ihm einige wenige, über das gesamte Reich verstreute Gewaltausbrüche, aber vor 1618 eben doch kein allgemeiner Konflikt. Wir sprechen hier immerhin von der auf lange Zeit längsten Friedensperiode der neueren deutschen Geschichte – erst 2008, 63 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sollte dieser Rekord gebrochen werden! Was das bedeutet, wird noch deutlicher, wenn wir dem relativen Frieden im Heiligen Römischen Reich des späteren 16. Jahrhunderts etwa die brutalen Bürgerkriege gegenüberstellen, die von den 1560er-Jahren an Frankreich und die Niederlande erschütterten.

      Angesichts des großen Erfolges der Augsburger Regelung von 1555 erscheint der allgemeine Kriegsausbruch ab 1618 umso erklärungsbedürftiger. Der erste Teil dieses Buches soll eine solche Erklärung liefern; außerdem legt er die allgemeine Situation im damaligen Europa dar und stellt die Hauptproblematik sowie zahlreiche Hauptfiguren des Dreißigjährigen Krieges vor. Im zweiten Teil folgt dann eine weitgehend chronologische Betrachtung der Kriegsereignisse, wobei dem Geschehen ab 1635, das in der bisherigen Forschung zu Unrecht vernachlässigt worden ist, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird – wer die Jahre nach 1635 außer Acht lässt, wird nie verstehen, warum ein Friedensschluss lange Zeit unerreichbar blieb. Die abschließenden Kapitel beleuchten die politischen Konsequenzen des Dreißigjährigen Krieges, seine immensen Kosten (an Material und Menschenleben) sowie die Frage, was der Krieg bedeutete – für jene, die ihn erlebten, aber auch für nachfolgende Generationen.

      2. Aufruhr im Herzen der Christenheit

      Das Heilige Römische Reich

      Auch vor 1618 war das Geschehen im Heiligen Römischen Reich durchaus nicht undramatisch – aber das Drama, von dem hier die Rede ist, war doch eher im Gerichtssaal als auf dem Schlachtfeld angesiedelt. Die Mitteleuropäer des 16. Jahrhunderts sahen sich in diverse langfristige – und oft auch langatmige – Rechtsstreitigkeiten verwickelt, die von späteren Generationen als ermüdend und belanglos abgetan worden sind. Stattdessen verdichtete man die Jahrzehnte vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges zu einem griffigen Narrativ, demzufolge es eine fortschreitende, konfessionelle wie politische Polarisierung gewesen sei, die unausweichlich zum Krieg geführt habe. Da es mitunter sehr schwerfällt, die Komplexitäten des Alten Reiches angemessen darzustellen, ist ein solches Vorgehen nur zu verständlich.

      Im 18. Jahrhundert musste selbst der unermüdliche Johann Jakob Moser (der neben seiner Juristenkarriere auch noch die Zeit fand, 600 protestantische Kirchenlieder zu schreiben und acht Kinder großzuziehen) seine Gesamtdarstellung der Reichsverfassung nach immerhin mehr als 100 Bänden abbrechen. Anscheinend besteht die einzige Möglichkeit, sich dem Problem zu nähern, tatsächlich darin – wie T.C.W. Blanning so treffend bemerkt hat –, eine Vorliebe für das Anomale zu kultivieren, denn das Alte Reich und seine Teile passten in keine denkbare Schublade.14 In eine ähnliche Richtung geht die viel zitierte Einschätzung des Naturrechtsphilosophen Samuel Pufendorf, der 1667 erklärte, das Reich sei weder eine „reguläre Monarchie“ noch eine Republik, sondern sei „unregelmäßig“ und gleiche einem „Monstrum“. Doch vielleicht bietet eine andere zeitgenössische Metapher den besseren Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen Naturphilosophen wie René Descartes, die Welt auf mechanische Weise zu erklären. Alles, lebendige Wesen wie die Bewegung der Himmelskörper, interpretierten sie als komplexe mechanische Apparate. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund erscheint das Alte Reich als ein träger, sperriger Schwertransporter, in dessen Innerem gleichwohl eine ausgefeilte und komplizierte, dabei überraschend robuste Maschinerie von Gewichten und Gegengewichten ihr Werk tat. Die Könige von Frankreich, Schweden und Dänemark mochten mit ihren Schwertern auf dieses Gefährt einschlagen, indessen der osmanische Sultan es mit seinem Szepter traktierte: So zerbeulten sie vielleicht seine äußere Hülle und brachten auch ein paar der empfindlicheren Teile im Inneren durcheinander – aber den gemächlichen, schwerfälligen Gang des großen Ganzen hielten sie nicht auf.

      Mauern, Türme, Herrschaftssitze Was diesen Koloss vorantrieb, war die harte Arbeit von Millionen von Kleinbauern und anderen einfachen Leuten, die in den 2200 Städten, den mindestens 150 000 Dörfern, den zahlreichen Mönchs- und Nonnenklöstern sowie anderen Gemeinschaften im ganzen römisch-deutschen Reich lebten. Dort, auf der Ebene der Gemeinschaften, spielte sich das wirkliche Leben ab: Menschen heirateten, bekamen Kinder, gaben und nahmen Arbeit, brachten die Ernte ein, stellten Waren her und trieben Handel. Diese Gemeinschaften sind es auch, die Matthäus Merians berühmte Kupferstichsammlung Topographia Germaniae dominieren, ein monumentales Verlagsvorhaben, das zur Hochzeit des Krieges in den 1630er-Jahren begonnen und erst 40 Jahre später abgeschlossen wurde.15 Die zuletzt 30 Bände der Topographia enthalten kaum eine Schilderung der natürlichen Umgebung, sondern versammeln, nach Gegenden