Die Vorstellung vom Dreißigjährigen Krieg als einem Religionskrieg harmonierte zudem mit der protestantischen Meistererzählung, die hinter einem großen Teil der Historiografie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stand und der zufolge die Reformation mitsamt ihren Folgen als Befreiung vom katholischen Joch gedeutet wurde. Dieselbe progressive Entwicklungslinie ließ sich aber auch ohne konfessionelle Einfärbung zeichnen, nämlich als rein säkularer Modernisierungsprozess. In einer neueren Darstellung wird der Dreißigjährige Krieg so zur „Entwicklungs- oder … Modernisierungskrise“ der europäischen Zivilisation, zu einem „Inferno“, das die moderne Welt hervorgebracht habe.10
Es ist ein Gemeinplatz der geschichts- und politikwissenschaftlichen Literatur, dass der Westfälische Friedensschluss am Ursprung jenes Systems souveräner Staaten stehe, das in den kommenden Jahrhunderten die zwischenstaatlichen Beziehungen auf der ganzen Welt prägen sollte und deshalb auch als das Westfälische Staatensystem bekannt ist. Unter Militärhistorikern gelten Schlüsselfiguren wie Gustav Adolf gemeinhin als die „Väter“ der modernen Kriegführung. Auf politischer Ebene, heißt es, habe der Dreißigjährige Krieg die Ära des Absolutismus eingeläutet, die das Schicksal weiter Teile Europas bis zur Französischen Revolution bestimmt habe. Die Europäer ihrerseits exportierten ihre Konflikte in die Karibik, nach Brasilien, Westafrika, Mosambik, Ceylon, Indonesien, weit über den Atlantik und den Pazifik. Das Silber, mit dem die Soldaten des katholischen Europa entlohnt wurden, förderten indigene Mexikaner, Peruaner und Bolivianer unter entsetzlichen Bedingungen aus den Minen Südamerikas; viele Tausende von ihnen sollten deshalb zu den Opfern des Dreißigjährigen Krieges gezählt werden. Afrikanische Sklaven plagten sich auf den Plantagen niederländischer Zuckerrohrpflanzer, deren saftige Gewinne zur Finanzierung des Unabhängigkeitskampfes ihrer Republik gegen die Spanier beitrugen, neben Einnahmen aus dem Ostseegetreidehandel und der Befischung der Nordsee.
Oft dominiert in der englischsprachigen Forschung zum Dreißigjährigen Krieg mittlerweile das Interesse an diesem weiteren Kontext; die Geschehnisse innerhalb des Heiligen Römischen Reiches werden entsprechend als Teil eines größeren Machtkampfes zwischen Frankreich, Schweden und den englischen, niederländischen und deutschen Protestanten auf der einen Seite und den Kräften der spanisch-habsburgischen Hegemonie auf der anderen dargestellt. Nach dieser Lesart war der Krieg innerhalb des Reiches entweder von Anfang an nur das „Anhängsel“ eines größeren Konflikts – oder wurde es doch spätestens, sobald in den 1630er-Jahren Schweden und Frankreich in Deutschland eingriffen. Ein führender britischer Vertreter dieser internationalen Perspektive auf den Dreißigjährigen Krieg hat deshalb die national fokussierte Auffassung in Teilen der älteren Geschichtsforschung zurückgewiesen und insbesondere manchen deutschen Historikern vorgeworfen, sich provinziell zu gebärden, neigten sie doch dazu, „den Krieg fast ausschließlich unter lokalem und regionalem Blickwinkel darzustellen“. Dennoch bleibt auch die „internationale Schule“ tief von der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geprägt: etwa, indem sie den Ausbruch des Konflikts als unvermeidlich darstellt und den weiteren Kriegsverlauf als stetige Eskalation von Gewalt und konfessionellem Ressentiment beschreibt.11
Was dieses Buch will
Das Geschehen des Dreißigjährigen Krieges war außerordentlich komplex. Die angesprochenen Interpretationsprobleme ergeben sich aus dem Versuch, diese Komplexität zu reduzieren und das Kriegsgeschehen zu vereinfachen – meist durch die übermäßige Betonung einer einzelnen Facette des Konflikts zulasten aller anderen. Das vorliegende Buch soll, erstens, die unterschiedlichen Aspekte wieder miteinander verknüpfen, und zwar durch den ihnen gemeinsamen Bezug zur Reichsverfassung. Der Krieg innerhalb der Reichsgrenzen hing mit anderen Konflikten zusammen, aber er blieb doch immer klar umrissen. Selbst außerhalb des Heiligen Römischen Reiches waren viele Zeitgenossen der Ansicht, es sei ein und derselbe Krieg, der mit dem Böhmischen Aufstand begann und mit dem Westfälischen Frieden endete. In den frühen 1620er-Jahren begannen sie, von einem „fünfjährigen“ oder „sechsjährigen Krieg“ zu sprechen, und so zählten sie bis 1648 immer weiter.12
Gleichwohl betraf der Konflikt ganz Europa, und die europäische Geschichte wäre wohl sehr viel anders verlaufen, wenn es den Dreißigjährigen Krieg nicht gegeben oder dieser zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Unter den führenden Mächten Europas blieb allein Russland unbeteiligt. Sowohl Polen als auch das Osmanische Reich übten beträchtlichen Einfluss aus, ohne direkt einzugreifen. Den Niederländern gelang es gerade so, ihren eigenen Kampf gegen die Spanier von dem gesamteuropäischen Geschehen getrennt zu halten; zugleich bemühten sie sich aber, das Geschehen im römisch-deutschen Reich durch begrenzte, indirekte Hilfeleistungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das Engagement der englisch-schottischen Krone auf dem Kontinent war substanzieller; ein formeller Kriegseintritt fand jedoch gleichfalls nicht statt. Frankreich und Spanien mischten sich zwar ein, trennten ihre Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg allerdings deutlich von dem Konflikt, den sie zur selben Zeit gegeneinander ausfochten; dieser hatte seine eigenen Ursprünge und sollte nach 1648 noch elf weitere Jahre andauern. Dänemark und Schweden waren vollwertige Kriegsparteien, obgleich ihre Beteiligung kaum etwas mit den Ursprüngen des Konflikts zu tun hatte. Auch andere benachbarte Territorien, wie etwa Savoyen oder Lothringen, wurden in die Auseinandersetzung hineingezogen, ohne darüber ihre eigenen Ziele und lokalen Streitigkeiten aus dem Blick zu verlieren.
Die zweite Hauptthese der vorliegenden Studie ist diese: Der Dreißigjährige Krieg war nicht in erster Linie ein Religionskrieg.13 Religion und Konfession stellten wirkmächtige Identifikationsmerkmale dar, keine Frage; doch mussten sie sich dabei gegen politische, soziale, sprachliche, geschlechtliche und andere Unterscheidungen durchsetzen. Die meisten zeitgenössischen Beobachter sprachen von kaiserlichen, bayerischen, schwedischen oder böhmischen Truppen, nicht von katholischen oder protestantischen – überhaupt sind „katholisch“ und „protestantisch“ anachronistische Kennzeichnungen, die sich seit dem 19. Jahrhundert aus Gründen der Bequemlichkeit eingebürgert haben, um zu einer einfacheren Darstellung des Geschehens zu gelangen. Der Dreißigjährige Krieg war nur insofern ein Religionskrieg, als der Glaube in der Frühen Neuzeit das leitende Prinzip in allen Bereichen öffentlichen oder privaten Handelns lieferte. Um den tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem militärischen Konflikt und den theologischen Streitigkeiten innerhalb des Christentums zu verstehen, müssen wir zwischen militanten und gemäßigten Gläubigen unterscheiden. Fromm waren sie jedoch alle, und wir sollten die Moderaten unter ihnen nicht gleich für die rationaleren, vernünftigeren oder gar säkulareren Menschen halten. Der Unterschied zwischen Moderaten und Militanten lag nicht im Ausmaß ihres religiösen